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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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Rike ihr etwas Bedeutsames verschwie gen: Ihre Mutter war nicht tot. Außerdem, Lea konnte nicht erklären, warum, fühlte sie sich zu dieser fremden Frau hingezogen. Da war etwas an ihr, was ihr bekannt vorkam, etwas, was Nähe und Geborgenheit verhieß.
    Wenn sie die Wahrheit spricht, dann gehört sie zur Familie. Tief in sich drinnen wusste Lea bereits, dass Claire die Wahrheit sprach.
    »Wenn es dir nichts ausmacht?«, entgegnete Claire nun zögerlich.
    »Nein, das macht es nicht.« Lea holte tief Luft. »Und wenn wir schon dabei sind, du könntest auch hier übernachten. Ich habe eine Schlafcouch.«
    Ein wenig unsicher hing ihr Blick nun an dem der Großmutter. Vielleicht war dieser Vorstoß doch zu viel des Guten gewesen, vielleicht …
    »Wenn dir auch das recht ist«, sagte Claire mit einem Lächeln, »dann gerne. Danke.«
    Sie musterten einander, als wären sie sich eben erst be gegnet. Claires Deutsch hatte eine leicht englische Färbung, war aber ansonsten makellos. Warum hatte Rike nie über sie gesprochen? Eine Großmutter in Australien – war das etwas, was man verschwieg?
    Am Abend stand Claire in dem kleinen Badezimmer ihrer Enkelin, ohne sich zu rühren. Sie hatte nicht gedacht, dass Lea sie so einfach einlassen würde. Sie hatte sich nicht vorstellen können, so unbefangen mit ihr zu sprechen. Obwohl es albern klang, und Claire war stets eine pragmatische Person gewesen, kam es ihr vor, als kenne sie Lea schon länger. Vielleicht waren es die dunklen Haare und ihre dunklen Augen. Friederike, ihre Tochter, vor deren Wiedersehen sie sich genauso fürchtete, wie sie es herbeisehnte, hatte ebensolche Haare und Augen gehabt. Claire betrachtete nochmals prüfend ihr eigenes Gesicht in dem einfachen Badspiegel.
    Fünfundachtzig Jahre, du bist fünfundachtzig Jahre alt. In dei nem Alter sollte man es ruhiger angehen. Hoffentlich ist es nicht zu spät.
    Claire runzelte die Stirn.
    Sie hatte sich selten Gedanken über ihr Alter machen müssen, denn sie war stets von robuster Gesundheit gewesen. Aber natürlich fing es irgendwann bei jedem mit den Wehwehchen an, dem Zwicken und Zwacken, dem schlechteren Hören und Sehen und dem schnelleren Ermüden. Sie musterte sich nochmals genauer durch die dicken Brillengläser: Ihre Wangen waren weich und rosig und von einem Gitter feinster Falten und Fältchen durch zogen. Rund um Augen und Mund zeigten weitere Falten, dass sie in ihrem Leben gern und viel gelacht hatte. Wer aber genauer hinsah, konnte auch die Traurigkeit erkennen, die dieses Gesicht zeichnete, den düsteren Unterton, wie die melancholische Grundmelodie eines an sich fröhlichen Musikstückes. Es war Claire stets gelungen, diese Grundmelodie ihres Wesens verborgen zu halten, doch auch ihre Haut war dünner geworden. Je älter sie geworden war, desto leichter drängten vor allem lang zurückliegende Erinnerungen an die Oberfläche. Erinnerungen, die ihr Angst machten.

V iertes Kapitel
    Der Wecker hatte noch nicht einmal sechs Uhr geläutet, als Lea erwachte. Im Urlaub blieb sie eigentlich gerne länger im Bett, aber heute wollte ihr das nicht gelingen. Unruhig wechselte sie wieder und wieder ihre Position.
    Wer war Claire? Ihre Großmutter, nun gut. Das mochte stimmen. Da war etwas Vertrautes in ihrem Gesicht, das hatte sie sofort bemerkt. Aber warum hatte nie jemand über sie gesprochen? Und warum hatte sie sich nie gemel det? Oder hatte sie doch?
    Lea dachte an ihre Mutter und überlegte, ob sie ihr zutraute, Briefe zu verstecken. Aber Rike war eigentlich nie eine gute Lügnerin gewesen. Lea warf sich auf den Rü cken. Was aber, wenn sie sich täuschte? Was blieb dann noch von ihrem Leben? Was stimmte und was nicht? Die Ungewissheit bedrückte sie.
    Sie starrte an die Decke, wo das Morgenlicht ein Spiel aus Licht und Schatten auf die weiße Raufasertapete malte. Unschlüssig umarmte sie den Zipfel ihrer Bettdecke, dann drehte sie sich nach links, streifte mit einem Blick und aus halber Gewohnheit die Stelle, an der Marc vor so kur zer Zeit noch gelegen hatte.
    Das war, bevor wir zu ihm gefahren sind. Bevor ich den Test gemacht habe. Bevor mein Leben sich radikal veränderte.
    Lea schwang die Beine aus dem Bett. Sie würde jetzt einfach Frühstück machen und dann warten, bis Claire auf wachte. Sicher war sie immer noch erschöpft von der lan gen Reise.
    Nach kaum zehn Minuten hatte Lea sich geduscht und angezogen. Auf einem gelben Post-it hinterließ sie ihrer Großmutter ein paar Zeilen zur

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