Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Ein kleiner Werbeprospekt für ein guest house im Weinbaugebiet von Swan Valley. Sie meinte sich zu erinnern, darauf den Namen Claire Hunter gelesen zu haben. Ob Mrs. Hunter ihn geschickt hatte, um sich anzukündigen?
»Und Sie sind meine Großmutter mütterlicherseits?«, fragte Lea nun zögernd.
»Ja, das bin ich.« Claire Hunter lächelte.
Hatte sie Lea zuerst aufgesucht, oder war sie vorher bei Rike gewesen? Sie hatte nichts davon gesagt, oder?
»Meine Mutter ist in Urlaub«, sagte Lea in die Stille hinein.
Claire Hunter nickte.
Also hatte sie sie aufgesucht und festgestellt, dass sie nicht da war.
Lea warf der weißhaarigen Gestalt auf der gegenüberliegenden Tischseite zum wiederholten Mal einen knap pen Blick zu. Die alte Dame sah etwas blass aus. Natürlich, der Flug musste anstrengend gewesen sein. Australien war schließlich weit entfernt, auf der anderen Seite der Welt.
Sie ist meine Großmutter, wiederholte Lea stumm, meine Großmutter, als könne es mit der Wiederholung glaubhafter werden.
Aber das wurde es einfach nicht.
Rike hatte ihre Kindheit doch, nach dem Tod der Mutter, bei deren Eltern in Frankfurt am Main verbracht, oder etwa nicht? In der Stadt, in der auch Lea aufgewachsen war, bevor Rike und sie zu Leas siebzehntem Geburtstag in diese Gegend gezogen waren.
Und jetzt saß ihr hier eine Tote gegenüber. Entweder hatte Rike ihr nicht die Wahrheit gesagt – oder die alte Dame log, aber warum sollte Claire Hunter von Australien bis nach Bad Kreuznach reisen, um sie, Lea, anzulügen?
Das war vollkommen absurd.
Lea räusperte sich. »Haben Sie weitere Pläne für Ihren Aufenthalt, Mrs. Hunter?«
Claire Hunter blickte auf.
»Ja, in gewisser Weise habe ich …« Sie brach ab, nahm ihren Löffel auf und rührte langsam in ihrer Tasse. »Würde es Sie stören, wenn wir uns duzen?«, fragte sie dann.
Aber ich kenne Sie doch gar nicht, fuhr es Lea durch den Kopf, während sie schon mit den Achseln zuckte. Sie spürte, wie der Wunsch, jemanden aus ihrer Familie kennenzulernen, ihre natürliche Zurückhaltung verdrängte.
»In Ordnung«, sagte sie knapp. Zu fürchten hatte sie vor der alten Dame sicher nichts. Der Gedanke brachte Lea zum Lächeln. Claire Hunter stimmte zaghaft ein.
»Claire.«
»Lea.« Lea räusperte sich. »Wie hast du mich eigentlich gefunden?«
»Ich habe einen Privatdetektiv beauftragt.«
»Aha.« Ein Privatdetektiv … Nun, wie sollte man auch sonst etwas über jemanden in Erfahrung bringen, der am anderen Ende der Welt wohnte.
»Viel konnte er mir allerdings nicht berichten«, fügte Claire im nächsten Moment fast entschuldigend hinzu, »nur, wo du wohnst und arbeitest. Und deinen Namen natürlich.«
Lea nickte. Ob sie dergleichen auch über Rike wusste?
Sie überlegte, ob sie die Sprache noch einmal auf ihre Mutter bringen sollte, konnte sich aber nicht dazu durchringen.
Vielleicht war sie ja sogar froh, dass Rike im Urlaub war. Es konnte nicht leicht sein, einer Tochter nach so vielen Jahren wieder gegenüberzutreten.
Lea wusste nicht viel über die Kindheit ihrer Mutter und noch weniger über den Rest der Familie. Sie hatte immer gespürt, dass Rikes Kindheit nicht glücklich gewesen war, und hatte selbst, um die Mutter nicht traurig zu machen, ihre drängenden Fragen zurückgehalten.
»Ich bin unter anderem auch hier, weil ich in der Gegend ein Weingut gekauft habe«, fuhr Claires Stimme in ihre Gedanken.
»Ach, wirklich?«
Lea hatte sich jetzt einen Becher Buttermilch aus dem Kühlschrank geholt und schenkte ihrer Großmutter eine neue Tasse Kaffee ein. Neugierig blickte sie die alte Dame an. Die starrte einen Moment lang wortlos vor sich auf den Tisch, dann gab sie sich einen Ruck.
»Zurück zu den Wurzeln«, sagte sie mit einem nun etwas unruhigen Lächeln, »irgendwann muss jeder Mensch wieder zu seinen Wurzeln, nicht wahr? An den Anfang von allem, was uns ausmacht.«
Lea runzelte die Augenbrauen.
»Ich habe eine Phase meines Lebens in dieser Gegend verbracht«, fügte Claire erklärend hinzu. Dann seufzte sie. »Morgen werde ich mit dem Taxi rausfahren …«
»Ich könnte dich fahren«, platzte Lea heraus, bevor sie recht überlegt hatte. Plötzlich war ihr der Gedanke gekommen, dass sie von Claire auch etwas über sich erfahren konnte. Und über Rike. Claire würde ihr helfen, die Geschichte ihrer Familie zu verstehen. Und das Gefühl, sich selbst fremd zu sein, das sie stets begleitete, würde wie von selbst verschwinden.
Immerhin hatte
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