Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
auf.
Drei Menschen befanden sich in dem kleinen Raum, Lea, Claire und eine kleine fremde Frau, die Rike sofort als Ärztin ausmachte.
»Was ist passiert?«, rief sie aus. »Was ist los?«
Lea sah auf. »Claire ist gestürzt. Sie sagt, ihr sei schwindelig geworden, weil sie zu hastig aufgestanden sei. Gott sei Dank ist nichts gebrochen.«
»Was ein Wunder ist in ihre Alter«, fügte die Ärztin auf Deutsch hinzu.
Claire aber, die Augen gegen die Decke gerichtet, die Hände auf dem Bauch gefaltet, sagte keinen Ton.
S echstes Kapitel
»Die Frauen sind weg. Vor zwei Wochen schon, nach Claires Geburtstag. Lea hat mich noch einmal angerufen, bevor sie gefahren sind, um ein paar Details wegen des Hauses zu besprechen, da hat sie’s mir gesagt.«
»Weg?« Tom bockte sein Motorrad auf und drehte sich zu seinem Onkel um. Wolf fuhr sich mit einer Hand durch das Haar.
»Nach Italien.«
»Alle drei? Zusammen? Tatsächlich?« Tom legte kurz die Hand in den Nacken, um sich etwas zu dehnen, spürte Schweiß unter seinen Fingerspitzen. Die Strecke von Ham burg bis hierher war weit, aber nach jeder längeren Zeit, die er mit seiner Exfrau verbrachte, war sein Bedürfnis, sich körperlich zu verausgaben, ungemein hoch. Es war mittlerweile schwer, sich vorzustellen, dass es Zeiten ge geben hatte, in denen er niemals von dieser Frau hatte ge trennt sein wollen.
Er seufzte. Conny und Mia hatten sich jedenfalls gut eingelebt in Hamburg. Ihr neues Leben hatte begonnen. Connys Neuen hatte er – Gott sei Dank – nicht getroffen.
Lea ist fort, schoss es ihm durch den Kopf. Ja, sicherlich, er war sehr überraschend aufgebrochen, hatte sich wieder einmal kaum von ihr verabschiedet. Warum also sollte sie auf ihn warten? Für einen Moment dachte er an ihre kleine Gestalt, ihr ovales, etwas rundliches Gesicht. Seitdem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er sie nicht vergessen, und doch entdeckte er jedes Mal, wenn er sie sah, etwas Neues an ihr: einen Leberfleck am Ellenbogen, die grünen Flecken in ihren braunen Augen, die ungewöhnlich geraden Augenbrauen, ihren schönen Mund, der so oft lächelte.
Tom griff nach seinem Helm. »Du weißt nicht zufällig, wohin genau sie gefahren sind?«
»Doch, das weiß ich.« Wolf verschränkte die Arme vor der Brust.
»Und?« Mit einem Mal konnte Tom seine Ungeduld nur noch schwer bezähmen.
»Du liebst sie, nicht wahr?«, fragte Wolf.
Tom öffnete den Mund, um etwas Unwilliges zu erwidern, dann schluckte er kräftig. Wolf hatte recht. Plötzlich fragte er sich, wie Wolf sich wohl gefühlt hatte, als Betty und Bernd damals verschwunden waren. Hatte er je versucht, herauszufinden, wo sie waren?
»Kommst du noch einmal rein und trinkst etwas, bevor du losfährst?«, fragte Wolf ihn unvermittelt. »Es ist eine lange Strecke.«
Tom nickte. Am liebsten hätte er Wolf jetzt gesagt, wie dankbar er dafür war, dass sein Onkel ihn damals bei sich aufgenommen hatte. Er hatte nicht gezögert, obwohl ihm Toms Anblick doch auch immer die Erinnerung an Frau und Bruder vor Augen rief.
Sie betraten die Küche, in der sich seit den Sechzigerjahren nichts mehr geändert hatte. Wolf nahm zwei Gläser aus dem Schrank und füllte ihnen beiden eine Weinschorle ein. Tom leerte sein Glas mit tiefen Zügen.
Einen Moment lang sagte Wolf nichts, dann schaute er seinen Neffen an. »Sei klug, lass es dir nicht kaputt machen, Tom, hol sie nach Hause.«
Tom hatte in Erwägung gezogen, mit dem Motorrad zu fahren, sich dann aber doch für den Wagen entschieden. Wenn Lea seiner Einladung zustimmte, war dies sicherlich die bessere Lösung. Auf dem Rücksitz würde auch noch Neele Platz haben.
Er hatte sich von niemandem verabschieden müssen, außer von Wolf, und der war in den Hof hinausgetreten, hatte beide Hände auf das Dach von Toms Käfer gelegt und leise gelächelt.
»Meine erste Reise habe ich auch mit dem Käfer angetreten. Neben mir meine Frau, auf dem Rücksitz das Ge päck, und ab ging’s nach Capri.« Einen Moment lang hatte er seinen Erinnerungen nachgehangen. »Hast du alles dabei? Pass? Etwas Proviant? Ein paar Franken für die Schweiz?«
Tom hatte genickt, und doch hatte Wolf es sich nicht nehmen lassen, noch ein Päckchen Brote durch die geöff nete Scheibe zu reichen.
»Du wirst Hunger kriegen, Junge. Es ist ein weiter Weg, vergiss das nicht.«
Noch jetzt, als Tom nach mehreren Stunden den ersten Rastplatz ansteuerte, sah er Wolf vor sich, wie er mit erhobener rechter Hand auf dem Hof
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