Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
nächtlichen Sturm in der Luft.
Sie dachte an die Kirche, von der in den Briefen die Rede war. Sie hatte sich die paar Zeilen der Beschreibung notiert und versucht, sie ins Italienische zu übersetzen. Vielleicht würde man ihr hier in diesem Café helfen können – wenn nicht, mussten sie wohl oder übel die Küste abfahren und jeden möglichen Ort besuchen, bis sie die Stelle gefunden und Gewissheit hatten. Wie viele Kirchen in Meeresnähe mochte es hier wohl geben? Und was, wenn es ihre Kirche überhaupt nicht gab?
Rike aß ihren Kuchen und trank weiter den Kaffee in kleinen Schlucken dazu. Als sie damit fertig war, trat sie an die lange Theke. Sie wählte noch etwas Gebäck zum Mitnehmen und hielt der Verkäuferin dann mit der Bitte um Hilfe den Zettel hin.
»Ich suche …«, setzte sie an, kam aber nicht weiter.
Mit gerunzelter Stirn las die Frau die Beschreibung, überlegte eine Weile, lächelte dann. Aus den vielen Worten heraus, die sie sagte, meinte Rike drei oder vier zu erkennen. Punta della Madonna. Sie hatte eine Spur.
V iertes Kapitel
Claire hatte die Augen geschlossen und hielt das Gesicht zur Sonne hin gedreht. Es war später Nachmittag, die Hitze ließ sich mittlerweile gut aushalten. Wenn sie die Augen öffnete, konnte sie in kurzer Entfernung das Meer funkeln sehen. Auf der schmalen Straße unterhalb des Balkons fuhr ab und an ein Auto vorbei. Eben spazierte langsam ein älterer Mann vorüber.
Sie hatte die Wohnung bisher wenig verlassen. Neben ihr auf dem Tischchen stapelten sich ein paar Bücher, die sie vorgab lesen zu wollen. Sie war deswegen kurz vor der Abfahrt noch im Buchladen gewesen und hatte sich ein paar der Neuerscheinungen direkt vom Tisch genommen. Sehr aufmerksam war sie dabei nicht gewesen. Vor ihr lagen ein historischer Roman, ein Krimi und ein eher gruslig aussehender Thriller. Bisher hatte sie sich nicht entscheiden können, womit sie beginnen wollte.
Sie hatte auch ihren Block noch nicht zur Hand genommen und sich die Notizen gemacht, die sie sich machen wollte. Einen Moment lang dachte sie an Judy und John und Swan Valley. Sie vermisste die beiden. Sie vermisste Swan Valley. Manches Mal in den letzten Tagen hatte sie sich gefragt, warum sie überhaupt mitgefahren war. Was hoffte sie hier zu finden? Hatte sie nicht das geklärt, was sie hatte klären wollen? Warum war sie nicht zurück nach Australien gefahren, mit John und Judy? Sie wusste doch, dass ihr Leben dort war und nicht hier, in Europa. Das Leben in Europa gab es nicht mehr. Mit ihrer Tochter würde sie sich wohl nie wirklich aussöhnen können, dazu war zu viel geschehen. Vielleicht musste sie dankbar sein, wenn sie ab und an ein paar Worte wechselten. Das eigene Kind zu verlassen war unverzeihlich. Sie war eine schlechte Mutter.
Und hier in diesem Ort werden wir auch nichts finden. Nein, wir werden keine Spuren von Gianluca finden, nicht nach so vielen Jahren und nicht mit so wenigen Informationen. Wir werden niemals wissen, was damals wirklich geschah.
Claire setzte sich auf, zog sich am Geländer hoch und schaute wieder in Richtung Meer. Sie hatte versucht, stark zu bleiben, aber sie hatte sich noch nie so schwach gefühlt wie seit dem Brand. Lea hatte ihr versprochen, sich um das Gut zu kümmern, wenn sie wieder in Australien war, und mit Rike hatte sie das besprochen, was sie hatte besprechen können. Sie waren zu lange getrennt gewesen, zu lange hatte sie umsonst davon geträumt, das Rad der Zeit wieder zurückdrehen zu können. Sie hatte das Weingut wieder aufbauen wollen. Sie hatte eine Zeit heraufbeschwören wollen, in der sie mit Rike dort glücklich gewesen war, aber es war vergebens gewesen. Das Gut hatte sie einander nicht nähergebracht. Rike interessierte sich nicht dafür. Was also noch? Warum war sie hier?
Unten sah sie den alten Mann zurück in ihre Richtung schlurfen. Er lief gebückt, während er sich fest auf seinen Stock stützte, und die Brille auf seiner Nase wirkte groß und schwer. Obwohl er offenbar alleine unterwegs war, war er sorgfältig gekleidet. Unter der Jacke seines dunklen Anzugs lugte eine Weste hervor. In der Brusttasche steckte ein farblich passendes Tuch. Er war sorgsam gekämmt.
Ob er wirklich alleine war? Alleine, wie sie es auch war, seit nunmehr sechs Jahren, oder hatte seine Frau einfach keine Lust auf einen Spaziergang gehabt? Claire seufzte. Sie hatte sich nie erlaubt, richtig zu trauern. Die Arbeit hatte vorangehen müssen. Sie hatte sich um ihre Enkelin
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