Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
ihr von der Punta della Madonna erzählt hatte, warf ihr einen langen Blick zu. Rike naschte den Milchschaum vom Cappuccino herunter, löffelte dann die ersten Schlückchen Kaffee, bevor sie sich ihrem Kuchen widmete.
Sie war so in Gedanken, dass sie nicht darauf achtete, als sich die Tür wieder einmal öffnete. Erst als sie die Stimme hörte, blickte sie auf. Der Mann aus dem Andenkenladen ließ seinen Blick eben durchs Café schweifen, bis er an ihr hängen blieb. Er schien zu überlegen, dann kam er zu ihr herüber. Er wirkte nicht mehr so schüchtern wie bei ihrer ersten Begegnung.
»Buon giorno, signora.«
»Buon giorno«, sagte Rike, und dann, bevor sie sich versehen hatte, fragte sie: »Trinken Sie einen Espresso mit mir?«
Im ersten Moment war sie sich sicher, dass ihr unbeholfenes Italienisch zu unverständlich gewesen war, dann nickte er.
Als er wenig später mit zwei Tassen Espresso an ihren Tisch trat, waren Rikes Hände feucht vor Aufregung. Was sollte sie sagen? Sie konnte kein Italienisch. Schweigen war sicherlich keine Option. Während er sich umständlich setzte, starrte sie vor sich auf den Tisch. Endlich hörte das Scharren des Stuhls auf, und Rike zwang sich aufzublicken. In was für eine Situation hatte sie sich jetzt nur gebracht?
Sie schaute ihn an und hoffte, dass sie ihn nicht zu auffällig musterte. Im Gegensatz zu den meisten Italienern, die ihr bisher auf der Straße aufgefallen waren, sah sein Haar nicht aus, als sei es eben erst vom Friseur geschnitten worden. Oben auf dem Kopf wurde es bereits etwas dünn. Seine Augen wirkten traurig, ja, aber sie konnte auch Lachfältchen erkennen. Auf der rechten Seite seines Gesichts, etwa einen Zentimeter unterhalb des Ohrs, saß ein kleines sternförmiges Muttermal. Sie räusperten sich beide gleichzeitig, dann lachten sie beide zum ersten Mal.
»Wie heißen Sie?«, fragte er im nächsten Moment. »Wenn ich das fragen darf, signora .«
»Sie sprechen Deutsch!«, entfuhr es Rike.
»Ja.« Er lächelte. »Ich habe in Deutschland gelebt«, fügte er hinzu. »Lange Jahre.«
Er sprach sogar gut Deutsch. Rike konnte nur einen leichten Akzent hören, nein, es war mehr ein Nachhall, den sie nicht einordnen konnte.
»Ich habe nur ein paar Monate lang Italienisch gelernt, in der Volkshochschule«, sagte sie dann entschuldigend. »Ich heiße Friederike.«
Sie wusste nicht, warum sie ihren vollen Namen benutzte, den hatte sie so lange nicht benutzt.
»Aber alle nennen mich Rike«, fuhr sie fort.
»Rike«, wiederholte er. Er rollte das »r« stärker als sie. »Federica. Ich heiße Paolo.«
Sie schauten einander an, wortlos, und doch voller Verständnis, zwei taumelnde Sterne, die sich gefunden hatten.
Nach dem Kaffee lud er sie zu einem Spaziergang ein. Als sie ihn fragte, ob er sein Geschäft denn heute nicht öffnen müsse, schüttelte er den Kopf.
»Es ist mein Laden«, sagte er. »Als ich ihn eröffnete, habe ich mir gesagt, dass ich mich nie unter Druck setzen lassen werde, außerdem …«, er grinste sie schief an, »verdiene ich genug über den Sommer, wenn hier wirklich alles voller Touristen ist.«
Sie nickte. Dann, für eine Weile wieder im gemeinsa men Schweigen vereint, gingen sie durch die Straßen und Gassen seiner Stadt, erklommen endlich einen schmalen Pfad, der zwischen Gärten und Olivenhainen den Berg hinaufführte. Rike überlegte, ob es wohl der Weg war, den auch Lea kürzlich gegangen war.
Der Blick von oben auf den Ort sagte ihr etwas über die Vergangenheit, über Zeiten, in denen diese Stadt durch Mauern und eine Burg geschützt worden war. Über Zeiten, in denen Levanto zur Republik Genua gehört hatte, wie sie selbst aus einem Reiseführer wusste. Sie schaute ihren Begleiter von der Seite an, versuchte dann, das Haus auszumachen, in dem sich die Ferienwohnung befand.
Als sie den Rückweg antraten, verspürte sie etwas wie Bedauern darüber, dass sie nicht auch den Rest des Abends mit ihm verbringen würde. Vor seinem Geschäft verabschiedete sie sich von ihm. Plötzlich zitterte er wieder, musste wohl allen Mut aufbringen, um das Folgende auszusprechen.
»Domani?«, fragte er.
»Ja«, entgegnete sie.
Als sie die Tür zur Ferienwohnung öffnete, bemerkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Leas hastige Stimme drang aus Claires Zimmer. Neele saß alleine in der Küche in ihrer Wippe und schaute großäugig umher. Rike zog sich der Magen zusammen. Mit raschen Schritten hatte sie die Tür erreicht und stieß sie
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