Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Erklärung, schnappte sich den Schlüssel zu ihrem Fahrrad und fuhr wenig später los.
Die Bäckerei hatte gerade geöffnet, und sie trat ein. Sie war froh, dass ihr so früh am Morgen kein Nachbar begegnete. Ein paar Pendler waren auf dem Weg zur Arbeit, kauften sich belegte Brötchen auf die Hand oder süße Stückchen für später. Der Duft von frisch Gebackenem beschwingte Lea, und so kaufte sie noch eine Packung Kaffee für Claire, eine neue Erdbeermilch für sich, Butter und etwas Marmelade dazu.
Bei der Rückkehr hörte sie das Radio schon im Treppenhaus, also war auch Claire inzwischen wach. Als Lea die Tür aufschloss, erwartete sie ihre Großmutter im Flur. In ihren beigen Flanellhosen mit dem farblich passenden Pullover und einem schicken Halstuch dazu sah sie auch heute äußerst elegant aus. Ein Duft von feiner Seife und Lavendel ging von ihr aus. Nur ihr Haar hing noch unfrisiert auf ihre Schultern herab. Lea hatte gestern nicht gesehen, wie lang es war. Für einen Moment hielt sie inne. Bisher hatte sie nur ältere Damen mit Kurzhaarfrisuren und Dauerwellen kennengelernt.
»Mmmh, frische Brötchen«, meinte Claire und lächelte sie gewinnend an.
Lea erwiderte ihr Lächeln, fühlte, wie sich das Misstrauen in ihr ein weiteres Stück auflöste.
»Würdest du mir meine Haare frisieren?«, fragte Claire.
»Gerne.«
Lea rückte den Flurhocker in die Mitte, zum Licht hin, holte Kamm und Bürste aus dem Bad. »Setz dich.«
Claire tat, wie ihr geheißen. Staunend nahm Lea eine Strähne ihres weißen Haars in die Hand. Es war nicht nur lang, es war auch noch relativ dicht.
»Du hast schöne Haare«, sagte sie leise.
»Die Frauen in unserer Familie hatten immer schöne Haare, heißt es.«
Die Frauen in unserer Familie … Wie sich das anhörte … Das klang doch, als gäbe es noch viel mehr von ihnen, mehr als Rike, Claire oder Lea selbst … Lea ließ den Kamm durch die ersten Haarsträhnen gleiten. Es hörte sich an, als seien sie eine riesige Familie, aber dem war nicht so. So lange sie denken konnte, hatte es nur sie, ihre Mutter und deren wechselnde Partner gegeben. Je denfalls anfangs, später waren Rikes Beziehungen seltener geworden.
Ob Rike die Zweisamkeit mit einem Mann je vermisst hat?, fragte sich Lea mit einem Mal.
Claire sagte etwas. Lea kehrte in die Gegenwart zurück. »Entschuldige?«
»Ich habe meine Frisur nicht geändert, seit ich ein junges Mädchen war«, wiederholte Claire, und Lea konnte an ihrer Stimme hören, dass sie lächelte. »Eigentlich wollte ich immer gerne einen Pagenkopf wie Louise Brooks haben, aber ich habe mich nicht getraut.«
Louise Brooks … Vor Leas innerem Auge tauchte eine Frau mit dunklem Haar und großen Augen auf.
»So, jetzt einen Zopf flechten und dann einen Dutt dar aus drehen«, wies Claire sie an.
Lea gab sich Mühe.
»Fertig«, sagte sie dann, »du kannst es dir im Bad ansehen. Ich mach rasch Frühstück.«
»In Ordnung.«
Wenig später saßen sie einander am Tisch gegenüber. Lea konzentrierte sich darauf, Butter auf ein Brötchen zu schmieren. Claire nippte derweil an ihrer Tasse Milch kaffee und aß zwischendurch von ihrem Brötchen mit Erd beermarmelade.
Was könnte ich sie zuerst fragen?, überlegte Lea. Aber ist das nicht viel zu unhöflich, die eigene Großmutter aus zufragen? Was hat sie all die Jahre gemacht, und warum ist sie ausgerechnet jetzt zurückgekommen …? Um ihre Wurzeln zu suchen … Vielleicht war es das Alter, vielleicht fürchtete sie, es könne eines Tages zu spät sein. Wie alt war Claire überhaupt?
Lea bestrich die verbleibende freie Ecke ihres Brötchens mit Butter.
»Sag mal, was hast du eigentlich in Australien gemacht?«
Es wollte Lea nicht gelingen, Claire bei dieser Frage anzuschauen. Stattdessen blickte sie weiter auf ihr Brötchen und beschäftigte sich damit, die Butterschicht zu glätten.
»Ich leite dort ein Weingut. Und ein guest house , aber das weißt du ja schon.«
Lea hob den Kopf. Ein Weingut? Tatsächlich? Claire schluckte, spülte mit etwas Kaffee nach. Der Geruch machte Lea heute weniger aus, trotzdem gelüstete es sie immer noch nicht danach, ebenfalls eine Tasse zu trinken. Als leidenschaftliche Kaffeetrinkerin musste sie sich daran noch gewöhnen.
»Es liegt in der Nähe von Perth in Westaustralien, wie du aus meinem Prospekt weißt.« Claire lächelte. »Im Swan Valley. Hast du schon einmal australischen Wein getrunken?«
Lea schüttelte den Kopf.
»Na, das habe ich mir
Weitere Kostenlose Bücher