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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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bemerkte sie, dass ihre Großmutter ihr die Briefe hinhielt.
    »Ich gehe schon einmal rein und hole meine Sachen«, sagte sie. »Wollen wir heute mal wieder essen gehen?«
    Lea nickte. »Gute Idee.«
    Sie drehte die Briefe noch einmal in den Händen, lief dann zum Wagen und verstaute sie im Handschuhfach. Als sie zurück ins Haus kam, stand das Gepäck im Flur, doch Claire war nirgendwo zu sehen. Suchend lief Lea weiter und blieb bald wie angewurzelt stehen. Claire stand neben einem der kleinen Schuttberge und hielt die Puppe fest in den Händen. Ihre Schultern bebten. Sie weinte.

Zweiter Teil
    D ie Schwestern
    Juli 1792 bis April 1793

E rstes Kapitel
    Bonnheim, im April 1793
    »Suchst du etwas?«
    Unvermittelt hatte Helene im Eingang des gemeinsamen Zimmers gestanden. Die dreiundzwanzigjährige Marianne zuckte zusammen. Sie war so vollkommen versunken in ihren Gedanken gewesen, dass sie die Schwester einfach nicht gehört hatte. Sie hatte gar nichts gehört. Keine Stim men, keine Geräusche, nicht den Gesang der Vögel, nicht das Knarren der Dielen unter ihren Füßen. Sie hatte noch nicht einmal die Stimmen der Knechte und Mägde draußen im Hof gehört, die sich eigentlich nicht überhören ließen, und natürlich auch nicht, wie die Schwester die steile Holzstiege hinaufgekommen war. Auf einen Schlag drangen jetzt alle Laute in ihre Sinne, und für einen flüch tigen Moment dröhnte es so laut in ihrem Kopf, dass Marianne meinte, sie müsse sich beide Hände zum Schutz auf die Ohren pressen und so verharren.
    Helene erreichte mit wenigen Schritten den Schreibtisch, den sie und Marianne sich teilten, und riss die Papiere herunter, die sich auf der Schreibtischplatte verteilten. Bevor die Ältere etwas sagen konnte, hatte sie auch den kleinen Schlüssel hervorgezerrt, den sie stets an einem Band um den Hals trug, schloss ihre kleine private Schub lade auf und riss auch dort Papiere heraus, die sich raschelnd mit den anderen mischten.
    »Hier, lies doch«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Lies es, das wolltest du doch ohnehin tun!«
    Die Stimmen im Hof wurden wieder leiser, als habe irgendjemand eine Decke über Mariannes Kopf gezogen, doch dem war nicht so. Natürlich nicht. Sie stand einfach immer noch da – sah voller Unbehagen die Tränen, die in den Augen ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester schimmerten.
    Helenes Haar war immer noch zerzaust, wie zu dem Zeitpunkt, als sie auseinandergegangen waren, damals, vor wenigen Stunden erst. Als die Welt untergegangen war. Auch der dunkle Schmutzstreifen verlief noch quer über Helenes Stirn und erinnerte sie beide unerbittlich daran, was geschehen war. Noch nie zuvor hatte Marianne die kleine Schwester so außer sich erlebt, und auch jetzt schien sie sich nicht beruhigt zu haben. Wie auch? Was geschehen war, war zu schrecklich.
    Marianne hielt inne, wollte sich verbieten, weiter daran zu denken, doch Helene ließ es nicht zu. Kurz nur fuhr sie sich mit dem Handrücken über Mund und Nase, reckte dann den Kopf und drückte die Schultern durch.
    »Willst du nicht fragen, wie es ihm geht?«
    Marianne, deren Blick eben noch auf den verstreuten Papieren auf dem Boden geruht hatte, hob den Kopf. Ihre grünbraunen Augen trafen sich mit Helenes blauen. Keine der Schwestern wich zurück.
    »Wie geht es ihm?«, fragte Marianne endlich, und ihre Stimme war so unerwartet rau, dass sie sich gleich unwill kürlich räusperte.
    »Ich habe ihn in Christophs Zimmer bringen lassen.« Helene machte eine Pause. »Unser Bruder benötigt es ja vorerst nicht, nicht wahr?«
    »Nein.« Marianne bemerkte, wie Helene sie immer noch ansah, als wolle sie jede Nuance im Ausdruck ihrer Schwester studieren. »Das war eine gute Idee, Helene«, fügte sie mit schleppender Stimme hinzu.
    »Er ist ja fort, der Christoph, nicht wahr? Er wird so bald auch nicht zurückkommen können, sagt der Vater«, fuhr die Schwester fort.
    Marianne holte tief Luft. »Nein, wohl nicht.«
    »Alles hat sich verändert«, sagte Helene. »Wer hätte das gedacht, vor ein paar Monaten.«
    »Ja, wer hätte das gedacht.«
    Zögerlich ließ Marianne sich auf die Knie nieder und sammelte die verstreuten Papiere ein. Sie wollte es nicht und konnte es doch nicht verhindern, las hier und da ein Wort, obwohl sie das nicht hatte tun wollen, erhaschte Erinnerungssplitter der vergangenen Monate, so wie sie für Helene ausgesehen hatten.
    Seit sie sich erinnern konnte, hatte Helene ihre Gedanken dem Papier anvertraut.

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