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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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Sobald sie hatte schreiben können, von frühester Kindheit an, denn Helene war ein kluges Kind gewesen, hatte sie kleine Begebenheiten festgehalten. Hatte beschrieben, was sie bewegte. Und heute hatte Marianne hier irgendwo etwas zu finden gehofft, das ihr näherbrächte, was die Schwester in diesen Tagen dachte, in denen sie sich so schrecklich weit voneinander entfernt hatten. Aber das war nicht recht gewesen, das war ganz sicher nicht recht gewesen. Sie wusste das.
    Sie hätte früher mit ihr sprechen müssen. Sie hätte ihr die Wahrheit sagen müssen.
    Die Schrift ihrer Schwester, fiel ihr auf, hatte nicht immer denselben Schwung. Mal waren die Buchstaben kleiner, mal größer. Mal neigte sie sich nach rechts, mal nach links. Mit einem Ächzen stand Marianne endlich auf und legte das Papierbündel auf den Tisch. Helene hielt sie weiter im Blick.
    »Lies es doch«, zischte sie gehässig, »vielleicht würdest du es dann verstehen – oder ist es dir doch ebenso gleichgültig, wie ich es dir bin?«
    Vielleicht würde ich sie tatsächlich verstehen, dachte Marianne traurig, deshalb bin ich ja hierhergekommen, um zu verstehen, was geschehen ist. Und jetzt traue ich mich nicht. Ich, Marianne Stein, die sich vor nichts fürch tet, traue mich nicht.
    Sie streckte die Hand nach ihrer Schwester aus, doch die wich zurück. Unentschlossen kreuzte Marianne die Arme über der Brust und unterdrückte ein Frösteln.
    »Aber du bist mir nicht gleichgültig, Helene. Du bist meine Schwester.«
    Die Jüngere antwortete nicht. Marianne starrte wieder auf die Papierbögen, bemerkte auf einem eine Zeichnung, die wohl ihn zeigte. Helene hatte die Weinlese im letzten Herbst festgehalten. Gianluca war gerade dabei, einen Eimer in den großen Bottich auf dem Wagen zu leeren. Die kleine Schwester hatte große Sorgfalt auf seine Darstellung verwandt, während die anderen Figuren eher flüchtig anmuteten, wobei es ihr allerdings durchaus gelungen war, einzelne Charakteristika einzufangen, sodass man sofort wusste, um wen es sich jeweils handelte: Hier der stattliche Vater, dort die zarte Mutter mit einem Krug gewässerten Weins, da Friedel, der alte Knecht, daneben die mageren Weissgerber-Mädchen und Melchior und Karl, die beiden Tagelöhner. Helene konnte schon immer gut zeichnen.
    In jedem Fall hatte sie Gianluca besonders gut getroffen, und für einen Moment wünschte Marianne sich, sie könne das Bild einfach einstecken, um es ab jetzt jeden Abend alleine für sich hervorzuholen. Als könne sie sich selbst nicht trauen, tat sie einige Schritte rückwärts und setzte sich endlich auf ihr Bett. Helenes Blick folgte ihr, sie selbst rührte sich nicht von der Stelle.
    Wir haben ihn heute beide verloren, wir werden ihn beide nicht wiedersehen. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Es ist vorbei.
    Unwillkürlich legte sie eine Hand auf ihren Bauch, der sich unter dem Hemd sanft rundete.

D as Feuerwerk
    Mainz, im Juli 1792
    »Oh, sieh doch, sieh doch nur, Helene!«
    Marianne hielt den linken Arm ihrer Schwester fest um klammert und deutete mit der freien Hand auf den Fluss hinaus. Die Illuminationen ließen die Türme der Stadt Mainz hell aufleuchten, im Spiegel des Rheins verdoppelten sich die Gebäude, genauso wie die vom Ufer her unablässig in die Lüfte steigenden Feuergarben.
    Als ob die Nacht zum Tag geworden wäre, dachte Helene, es ist so wunder-, wunderschön.
    Zehntausende Fremde drängten sich nun schon seit Tagen in den Mauern der Stadt, hoher und niederer Adel, dazu Mainzer Bürger, Handwerker, Neugierige und die üblichen geschäftstüchtigen Kaufleute und kleinen Krämer. Vor allem die Wirtsleute machten in diesen Zeiten ihren Schnitt. Alle Gasthöfe waren besetzt, und sogar die Privathäuser beherbergten Freunde oder Gäste aus irgendeinem entfernten Winkel Deutschlands. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend wimmelten die Straßen von wohlgekleideten Menschen. Gegen Mittag, so hatte mancher, der schon weiter gereist war, verlauten lassen, war das Gewühl der Kutschen dieser Tage groß genug, um einer Hauptstadt den Rang streitig zu machen.
    Wenn ich sie nur malen könnte, hatte Helene ein ums andere Mal gedacht, wenn ich sie nur alle malen könnte.
    Mit dem dritten Tag des großen Fürstenkongresses, der auf die Kaiserkrönung in Frankfurt am Main gefolgt war, erreichte die stete Abfolge von Empfängen, Bällen und Festessen einen weiteren Höhepunkt. Kaum zu glau ben, dass alles erst vor zwei Tagen mit einem

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