Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
etwas Sonne zu tanken und sich auszuruhen, wie sie Lea zugerufen hatte.
Fast geschafft, dachte Lea, während sie sich in dem Raum umsah. Sie hatte den Eindruck, dass hier ein Teil der Mauer des 18. Jahrhunderts erhalten geblieben war. Nur der Boden wirkte neuer, aber sie war sich nicht sicher.
Lea hatte sich nun fast zur äußeren Hauswand vorgearbeitet und begann eben die letzten Dielenbretter zu lösen. Gut, dass ich schwindelfrei bin, ging es ihr gleich darauf und nicht zum ersten Mal durch den Kopf, während sie nach unten blickte. Unter ihr lag ein Haufen Schutt – Reste von Füllmaterial, alte Zeitungen und Sons tiges mehr, kaputte Dielenbretter. Sie trieb das Stemm eisen unter eines der letzten beiden Dielenbretter und be gann, es zu lösen. An einer Stelle steckten alte Zeitungen fest, an einer anderen sogar Lumpen. Als sich das Brett endlich lockerte, fielen erst die Zeitungen und dann das Lumpenstück herab.
Irgendetwas veranlasste Lea, noch einmal einen Blick auf das Häufchen Stoff zu werfen. Im nächsten Moment schauderte sie.
Ein Knopf starrte sie an, der wohl einmal zu einem Augenpaar gehört hatte, ein grober Mund, rotes Wollhaar – eine Puppe . Lea nahm sich vor, sie genauer zu betrachten, sobald sie ihre Arbeit beendet hatte.
Sie hatte es ja fast geschafft. Nur noch ein Brett. Sie nahm wieder das Stemmeisen zur Hand, hebelte es ab und sah dieses Mal einen kleinen Stapel Papier, der in einer Höhlung zwischen Wand und Dielenboden gelegen hatte. Lea packte den Stapel und wollte daran reißen, hielt dann jedoch inne. Dieses Papier fühlte sich ungewöhnlich an. Sie rutschte auf dem Balken noch etwas näher an die Stelle heran und ruckelte nochmals an dem letzten Dielenbrett, bevor sie erneut an den Papieren zerrte.
Nach einer Weile gelang es ihr doch, sie herauszuziehen. Neugierig betrachtete sie das Bündel. Offenbar waren es Briefe, mit einem blassen blauen Band zusammengehalten und teilweise von Mäusen oder was auch immer zerfressen. Lea versuchte, etwas zu entziffern, schei terte jedoch. Kurz entschlossen stopfte sie die Papiere vorne in ihren Overall und balancierte dann zur Treppe.
Polternd sprang sie die Stufen herunter, dann hinaus vor die Tür, wo es heller war als im Innern des Gebäudes. Claire war nirgendwo zu sehen. Der Liegestuhl stand verwaist. Vielleicht machte sie, wie so oft in den letzten Tagen, einen Spaziergang durch die Weinberge. Oder Herr Wieland oder dessen Neffe waren endlich gekommen, wie schon mehrfach angekündigt.
Lea schluckte. Eine unerklärliche Aufregung erfasste sie, sodass sie sich setzen musste. Reglos hielt sie dann die Briefe in der Hand, plötzlich unschlüssig, was sie tun sollte. Jemand in diesem Haus musste diese Briefe einst empfangen haben, und jemand in diesem Haus hatte sie unter den Dielen versteckt, aber warum nur?
Endlich löste sie das Band, versuchte den ersten Bogen aufzunehmen, doch der war fast vollkommen zerfressen und zerfiel unter ihren Fingerspitzen. Sie nahm den nächs ten, versuchte wieder, ein paar Worte zu entziffern. Irgendwo vom hinteren Hof her drang Claires Stimme zu ihr. In jedem Fall war sie nicht alleine. Gedankenverloren blätterte Lea, um nach dem Ende eines Briefs zu suchen. Was stand da? H? Nein, vielleicht auch M oder doch S? Sie nahm sich ein anderes Blatt vor.
… dass ich von Dir gehört habe … denke immer noch an unse ren Tag …
… Mainz …
Sosehr sie sich auch mühte, sie konnte nur einzelne Satzfetzen entziffern, manchmal auch nur Worte. Wie alt waren diese Briefe wohl? Stammten sie aus Claires Jugend? Nein, Lea vermutete, dass sie viel älter waren. Vielleicht sollte sie sie mit nach Hause nehmen und dort zu lesen versuchen? Möglicherweise konnte sie dort ein paar der fehlenden Stellen ergänzen?
»Was hast du denn da?«
Lea zuckte zusammen. Sie hatte nicht gemerkt, dass Claire sich ihr genähert hatte.
»Briefe, ich habe sie oben unter den Dielen gefunden.«
»Briefe? Zeig mal her.« Claire setzte die Brille auf die Nase, die sie stets an einer Kette um den Hals trug, und streckte die Hand aus.
Lea reichte ihr die Blätter. »Hast du die schon einmal gesehen?«
»Nein«, sagte Claire, während sie blätterte. »Die müssen recht alt sein.« Sie überlegte. »Ludwig hat mir damals eine Geschichte erzählt.«
»Ludwig?«
»Mein Großonkel, der, bei dem ich hier gewohnt habe.«
Lea starrte ihre Großmutter an. Ihr Großonkel? Claire hatte bei ihrem Großonkel gewohnt, aber wieso?
Erst jetzt
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