Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
selbstbewusst, geradeheraus, auf ganz natürliche Weise und ohne die kleinste Unsicher heit darüber zu vertun, ob ihnen dieser Platz überhaupt zustand.
Helene war von jeher anders gewesen. Sie hatte versucht, etwas dagegen zu tun, doch es war ihr nicht gelungen. Und sie wusste natürlich selbst, was die anderen über sie sagten. Manches hatte sie nicht hören sollen, manches war gesagt worden, weil man offenbar glaubte, sie habe sich an den Platz gewöhnt, den alle ihr zuschrieben.
Erst kürzlich hatte Tante Juliane, ihre Goti, zur Mutter gesagt, sie, Helene, sei kein schönes Kind und sie könne, weiß Gott, öfter weniger mürrisch dreinschauen, aber sie sei ein fleißiges und liebes Mädchen und werde irgendwann auch eine gute Ehefrau werden.
Ihre Patentante und deren Mann hatten die ganze Familie zur großen Fürstenversammlung nach Mainz eingeladen. Irgendwo hier im Gewühl waren auch sie und die Eltern zu finden, doch hatte man den jungen Leuten heute anlässlich der Feierlichkeiten erlaubt, eigene Wege zu gehen.
Mit kleinen nervösen Bewegungen strich Helene über den Stoff ihres neuen Kleides, zupfte ihr Brusttuch zu recht und überprüfte dann den Sitz ihres gleichfalls neuen Häubchens. Zur Feier des Tages hatten die Stein-Frauen sich neue Kleider anfertigen lassen, und Helene hatte besondere Sorgfalt darauf verwandt, sich anzukleiden. Der anerkennende Blick ihrer Mutter Emmeline hatte sie stolz gemacht. Marianne dagegen hatte ihr Haar an diesem Mor gen eher nachlässig aufgesteckt, sodass einzelne lockige Strähnen über ihre Schultern tanzten, und sie trug einen Strohhut zu einem schon älteren, taubengrauen Kleid, das allerdings atemberaubend an ihr aussah. Zweifelsohne hätte Marianne in Sack und Asche gehen können, ohne dass das ihrer Schönheit einen Abbruch getan hätte. Helene hatte sich über die Jahre daran gewöhnt, und doch schmerzte es manchmal, auch wenn sie Marianne liebte und sich der kleinen gehässigen Gedanken, die sie neuerdings zuweilen überfielen, sehr schämte.
Antons ernste, dunkle Augen trafen sich nun mit denen Helenes. Noch während sie den Blick abwendete, bemerkte sie die tiefe Falte, die sich trotz seiner gerade mal neunzehn Jahre in seine Stirn kerbte und diese in zwei Hälften teilte. Groß und schlank war er, mit immer etwas wildem schwarzen Haar und heller Haut.
Er liebt Marianne, fuhr es Helene durch den Kopf, der Arme, was soll man machen … Es war gewiss nicht leicht, die Schwester zu lieben, die sich oft flatterhaft gab wie ein Schmetterling. Das wusste sie. Sie wusste auch, dass sich die Eltern eine Hochzeit zwischen ihrer Ältesten und dem Ältesten der Weidmanns wünschten. Anton, Sohn eines reichen Bauern und Winzers, war schließlich eine gute Partie.
Helene trat einen Schritt zur Seite, dann noch einen. Es war in diesem Getümmel sicherlich unmöglich, sich einen ruhigeren Platz zu suchen, aber sie brauchte etwas Abstand. Um sie herum jubelte, lachte, sang und tanzte es immer noch unablässig, sie aber fühlte sich plötzlich einsam. Indem sie einen kurzen Blick zurückwarf, sah sie, dass inzwischen auch Christoph und Marianne tanzten, während Anton stocksteif an der Seite stand, als gehöre er nicht dazu.
Helene ging noch einige Schritte näher zum Fluss hin, dessen leiser Wellenschlag im Lärm unterging. Kurze Zeit darauf bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine späte Kutsche, wohl auf dem Weg zur weiter südlich gelege nen kurfürstlichen Favorite, und drehte sich neugierig zu ihr hin.
Für einen Augenblick nahm sie die Gestalt des Lakaien wie einen Schattenriss auf der Rückseite der Kutsche wahr, doch schon im nächsten Moment war diese verschwunden, und ein dunkles Bündel rollte und kugelte auf Helene zu, die vor Schreck wie starr stand.
Der gestürzte Lakai rollte direkt vor Helenes Füße und sprang sogleich geschmeidig auf, während die junge Frau immer noch reglos verharrte. Vielleicht hätte sie aufschreien, zur Seite springen oder wenigstens eine spöttische Bemerkung machen sollen, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und es gelang ihr noch nicht einmal zu lächeln.
Im Übrigen war es kein Lakai, stellte sie jetzt fest, sondern ein Mann, der sich eben den Dreck von seiner einfachen Kleidung klopfte und sie dann freundlich anlächelte. Weiße Zähne blinkten in einem – das sah man auch im diffusen Licht – sonnengebräunten, von dunklen Locken umrahmten Gesicht, ebenfalls dunkle Augen funkelten lustig. Der Mann musste etwa um die
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