Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Beifahrersitz gesetzt. Sie war eingeschlafen. Den Kopf gegen die Kopfstütze gelehnt und die Augen geschlossen, saß sie im Schein der Autobeleuch tung bei offener Tür da, immer noch jeder Zoll eine feine Dame. Nachdenklich musterte Lea ihre Großmutter. Hatte Claire die Nachfrage nach ihrem früheren Leben eigentlich tatsächlich abgeblockt, oder kam ihr das nur so vor? Und wenn ja, wieso sollte sie das getan haben?
S echstes Kapitel
Lea lenkte den Wagen in die Parklücke, schaltete den Motor aus, zog die Handbremse an und den Schlüssel ab. Nachdem das Motorengeräusch verstummt war, bemerkte sie die Stille mit einem Mal viel intensiver. Einen Moment lang blieb sie noch sitzen. Eine seltsame Unruhe hatte sie plötzlich überfallen. Was, wenn sie sich alles nur einbildete? Was, wenn sie gar nicht schwanger war? Was, wenn sie sich vollkommen unnötig mit Marc zerstritten hatte? Tatsächlich hatte sie in den letzten Tagen öfter davon ge träumt, dass sie sich geirrt hatte, dass da kein zweiter Strei fen im Sichtfenster gewesen war.
Aber nein, es war ja nicht nur die Sache mit der Schwan gerschaft, auch Claires Eintreffen hatte ihr Leben gründ lich verändert. Ihre angeblich früh verstorbene Großmut ter war sehr lebendig. Und dann das Weingut.
Lea öffnete die Wagentür und stieg aus. Was auch immer, sie wollte jetzt endlich Gewissheit haben.
Mit schnellen Schritten überquerte sie die Straße. Nur wenig später hatte sie die Praxis erreicht, stand nun auf einem blauen Teppich, der just an dieser Stelle besonders abgenutzt war, vor einer birkenholzfarbenen Theke und nannte ihren Namen.
»Lea Kadisch, ich habe einen Termin.«
Die Arzthelferin nickte, ohne den Kopf zu heben, wäh rend ihr Finger die Liste der Namen entlangglitt. Schon zu dieser frühen Stunde herrschte reger Betrieb in der Praxis. Jetzt nickte sie noch einmal, ohne dass ihre düstere Miene sich aufhellte.
Schon kurz nachdem Lea aufgefordert worden war, noch einmal Platz zu nehmen, wurde sie in ein kleines Behand lungszimmer gebeten. Die Ärztin erklärte ihr die Verwendung des vaginalen Ultraschalls. Lea spürte, wie etwas in sie eingeführt wurde, und verkrampfte sich unwillkürlich. Auf dem Monitor erschien ein rauschiges Bild in verschiedenen Grautönen. Am oberen Rand waren ihr Name und einige weitere Angaben zu lesen. Leas Blick rutschte auf das Rauschen zurück. Etwas schien sich da zu bewegen.
»Schauen Sie nur«, sagte die Ärztin in diesem Moment. »Das Herzchen schlägt bereits einwandfrei. Herzlichen Glückwunsch, es besteht kein Zweifel, Frau Kadisch, Sie sind schwanger.«
Ein Gefühl von Freude gepaart mit Unsicherheit breitete sich wie eine warme Welle in Lea aus. Wieder starrte sie auf den Bildschirm. Das war also ihr Kind. Tatsächlich. Sie musste sich auf die Lippen beißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Sie können sich wieder anziehen. Lassen Sie sich bitte den nächsten Termin geben«, sagte die Ärztin und streckte Lea die Hand hin. »Ich freue mich für Sie.«
»Danke schön«, stotterte Lea. Als sie wenig später mit einem Haufen Broschüren und einem Mutterpass die Trep penstufen hinuntereilte, rasten ihre Gedanken. Bevor sie das Haus verließ, entschied sie sich, das Infomaterial in ihrer großzügigen Handtasche verschwinden zu lassen. Sie hätte jetzt doch gerne jemandem Bescheid gegeben, aber wem nur?
Die nächsten Tage vergingen mit weiteren Aufräumarbei ten und den ersten Instandsetzungen durch die Handwer ker. Der Zimmermann sah sich den Zustand der Böden im Obergeschoss an und schlug vor, diese von Grund auf zu erneuern. Natürlich würde es bei einem Anteil Eigenleistung günstiger werden, und da Lea zunehmend Gefallen an der körperlichen Arbeit fand, machte sie sich kurzerhand selbst daran, die alten Bodendielen ab- und das Füllmaterial herauszulösen, sodass bald in jedem Raum nur noch das Gitter der Holzbalken übrig blieb, das einst die Grundlage für den Boden gebildet hatte.
Für heute hatte sich Lea den letzten Raum des oberen Stockwerks ausgesucht, ein kleines Eckzimmer, von dessen Fenster aus man einen ganz besonders guten Blick auf die umliegende Gegend hatte. Nach einigen Stunden intensiver Arbeit schmerzten Leas Schultern und Arme, und die Nase kribbelte permanent wegen des immer wieder aufwirbelnden Staubs. Mehrfach hatte sie schon niesen müssen. Jedes Mal war ein fröhliches »Gesundheit« von Claire zu hören gewesen, doch nun war die Großmutter nach draußen gegangen, um noch
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