Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Wenig später klapperte die Haustür. Die Kerzenflammen bewegten sich im Lufthauch, als die Küchentür kurz danach geöffnet wurde.
»Ich bin müde, Lea, ich denke …«, hörte sie Claires Stimme, dann herrschte einen tiefen Atemzug lang Stille. »Oh, du hast Abendbrot gemacht.«
»Ich dachte, wir essen heute mal hier.«
Lea lächelte ihre Großmutter an. Claire sah müde aus, aber ihre Haltung wirkte immer noch unschlagbar elegant. In einer Hand trug sie offenbar ein Päckchen mit Kuchen.
»Dafür ist es jetzt wohl zu spät«, sagte sie ebenfalls mit einem Lächeln.
»Wir könnten das morgen zum Frühstück essen«, schlug Lea vor. »Isst du denn noch etwas mit mir, oder bist du zu müde dazu?«
Claire lachte.
»Nein, nein, essen konnte ich schon immer. Zu jeder Gelegenheit.« Sie rückte sich den zweiten Stuhl an den Tisch heran und nahm Platz. »Schön hast du das gemacht. Und die Küche blinkt und blitzt. Das muss viel Arbeit ge wesen sein.«
Lea zuckte die Achseln. »Hier sieht man wenigstens, was man geschafft hat. Das hat durchaus etwas für sich.« Sie nahm sich eine Schnitte Brot, legte eine Scheibe Gouda darauf und biss ab. »Morgen rufe ich die ersten Handwer ker«, sagte sie, nachdem sie gekaut und geschluckt hatte.
Claire hatte sich ein Brot mit Kalbsleberwurst gemacht und aß eine Essiggurke dazu. »Herr Wieland wollte doch eigentlich seinen Neffen vorbeischicken. Vielleicht sollte ich ihn noch einmal anrufen?«
»Hm.« Lea biss erneut von ihrem Brot ab.
»Lecker«, murmelte Claire, holte, nachdem sie gegessen hatte, ein Stofftaschentuch aus ihrer Hosentasche und putzte sich die Finger ab. Lea schob nachdenklich ein paar Krümel auf dem Teller herum, unschlüssig, ob sie noch ein weiteres Brot essen sollte.
»Ich habe einen alten Lottoschein gefunden«, sagte sie endlich unvermittelt in die Stille hinein. »Habt ihr damals gespielt?«
Claire hob den Kopf. »Nein«, sie wollte wohl noch etwas sagen, zögerte kurz und sagte dann nur: »Das wäre keinem von uns je eingefallen.«
Keine Glücksspieler also, dachte Lea.
Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck blickte Claire zum Fenster hinaus. Hinter der brüchigen Mauer, die das Gut umgab, waren die Weinberge in der beginnenden Dunkelheit nur noch zu ahnen.
»Wir haben für den Wein gearbeitet. Wir haben alles getan, damit es den Pflanzen gut geht. Es ist eine wunderbare Arbeit, auch wenn ich das damals noch nicht erfasst habe.«
Lea schaute auf ihren Teller und zerschnitt den Käse, den sie sich noch genommen hatte, in immer kleinere Stück chen. Vielleicht würde sie mehr erfahren, wenn Claire von der Arbeit in den Weinbergen und bei der Weinherstellung erzählte?
»Weißt du, in welchem Zustand die Weinberge sind, die noch zum Gut gehören?«
Claire zuckte die Achseln. »Bisher habe ich mir nur einen groben Überblick verschaffen können. Es ist lange nichts gemacht worden. Herr Wieland wollte jemanden vorbeischicken, damit ich mir die ganze Sache gemeinsam mit ihm anschauen kann.«
»Seinen Neffen?«
»Ja, tatsächlich. Er hat anscheinend ein paar Semester Weinbau studiert.«
Dann war er wohl noch jung, überlegte Lea. Sie legte das Messer hin und schob den Teller vom Tischrand zurück. Endlich räusperte sie sich. »Wie war das eigentlich damals, als du hier gelebt hast?«
Claire legte das Stofftaschentuch zur Seite, das sie eben noch in den Händen geknäult hatte.
»Wie das war? Ich weiß nicht. Normal? So wie einem das eigene Leben eben normal vorkommt. Wir hatten kein elektrisches Licht und kein fließendes Wasser, das ist alles später eingebaut worden. Wir haben viel mit unseren blo ßen Händen gearbeitet und sind weitere Strecken gelaufen, als ihr es euch heute vorstellen könnt.« Sie lachte leise. »Aber das ist so lange her, und das Leben ist heute wirklich angenehmer. Ich würde es nicht mehr eintauschen wollen. Wirklich, es lohnt sich nicht, überhaupt darüber nachzudenken. Heute ist alles viel angenehmer.« Sie lehnte sich zurück. »Sollten wir nicht langsam fahren?«, fragte sie nach einer kurzen Pause. »Es wird spät, und ich bin müde.«
»Ja, natürlich, entschuldige …« Lea holte tief Luft. »Geh ruhig schon einmal zum Wagen. Ich räume hier nur rasch zusammen.«
Sie sah zu, wie Claire durch den Flur verschwand.
Ich muss wirklich geduldiger sein, mahnte sie sich.
Sie verstaute die Überreste des Abendessens in den Korb und folgte ihrer Großmutter. Die hatte den Wagen auf geschlossen und sich auf den
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