Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Achseln, strich sich dann über den runden Bauch, etwas, was er zuweilen tat, wenn er innerlich an einer Entscheidung arbeitete. Dem Tonfall seiner Antwort hing etwas halb Zögerndes, halb Hoffnungsvolles an. »Wenn du willst …?«
»Aber natürlich, Vater.«
Das bureau , wie der Vater es vornehm nannte, lag ganz rechts, am Ende des kurzen Gangs, mit Blick zum Hof. Als Erstes bemerkte Helene die Unordnung auf dem Schreib tisch, ein weiterer Hinweis auf Valentins Gemütszustand. Sie wusste, dass er sich seit jeher schwertat mit den Buch staben und am besten im Kopf kalkulierte.
Zweieinhalb Stunden später waren sie ein gutes Stück vorangekommen, und Helene klappte das große Buch zu, in dem der Vater über die Jahre Verschiedenes notiert hatte oder hatte notieren lassen: vom jeweiligen Beginn der ersten grünen Lese, also dem Entfernen einiger unreifer Beeren, um den verbliebenen mehr Platz und Kraft zum Wachsen zu lassen, über notwendige Laubarbeiten, Wachen, die man hatte aufstellen lassen, um Missbräuchen wie dem Salatsuchen, Grasrupfen und Laubabstreifen oder gar dem Diebstahl der Trauben vorzubeugen, Steuern, Abgaben, Lieferungen an Hubertus, seinen Schwager, bis hin zu den eingesetzten Arbeitern.
Die ersten zusätzlichen Helfer hatten dieser Tage bereits ihre Arbeit aufgenommen, im September würde die eigentliche Lese beginnen. Derzeit war man hauptsächlich mit Laubarbeiten beschäftigt. Triebe mussten festge bunden werden, um sie vor Windbruch zu schützen, Blät ter wurden entfernt, um die Durchlüftung der Rebanlage zu fördern und Pilzbefall zu verhindern.
»Stehen die Trauben gut dieses Jahr?«, fragte Helene, obwohl es sie nicht wirklich interessierte. Sie schämte sich dessen, aber sie hatte nie die Begeisterung des Vaters für den Wein aufbringen können. Valentin dagegen liebte die Arbeit im Wingert, so wie er es liebte, einen guten Tropfen aus seinen Trauben zu keltern.
Der Weinstock, pflegte er zu sagen, ist keine Pflanze, die man sich selbst überlassen könnte, sie braucht Fürsorge, aber sie dankt sie dir auch, wie ein gutes Kind.
Und es stimmte, ohne den Einsatz des Winzers bildete die Rebe lange Triebe aus, die deshalb immer wieder zu rückgeschnitten und an einer Stützvorrichtung, beispiels weise einem Pfahl, befestigt werden mussten. Valentin mochte die Schreibtischarbeit hassen, doch er stand gerne, groß und fleischig wie er war, mit beiden Beinen auf dem Feld oder bei der Lese, trug Kiepe um Kiepe zum Wagen, lachte den Helferinnen zu, die die Mühle bedienten, und überwachte mit Argusaugen die Fässer in seinem Weinkeller. Inzwischen schickte Onkel Hubertus die Weine seines Schwagers, des jüngeren Bruders seiner Ehefrau Juliane, sogar über den Rhein bis hinauf nach Holland, und der Vater – das wusste Helene – verspürte durchaus Stolz darüber.
»Lass uns noch einmal über die Helfer dieses Jahr sprechen«, sagte er jetzt, »der Weissgerber hat gefragt, ob ich Verwendung für seine kleinen Töchter hätt?«
Helene schlug das Buch wieder auf. »Wie alt sind sie?«
»Die Jüngste ist sieben, die Älteste zwölf, glaube ich …«
Valentin runzelte die Stirn im Versuch, sich zu besinnen.
»Ein zuverlässiger Arbeiter bisher, der Jonas Weissgerber«, stellte Helene nach einem Blick in das Buch fest. »Und du müsstest den Mädchen nicht viel bezahlen, es sind schließlich Kinder.«
Der Vater lächelte breit. »Du bist ein kluges Mädchen, Lele.«
Helene antwortete nicht. Töchter hatten sich nichts einzubilden, wenn einer sie klug schimpfte. Die schöne Schwester nannte niemand so, und doch war auch sie klug. Sie verbirgt es nur viel besser als ich, dachte sie bitter.
Unvermittelt stand sie auf. Sie sehnte sich danach, wieder alleine zu sein. »Darf ich gehen, Vater?«
»Natürlich, du warst mir bereits eine große Hilfe, Lele.«
Er küsste sie steif auf die Wange, etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte und womit er sie nun verwirrte.
Als sie die Tür erreichte, stand er erneut am Fenster und sah hinaus.
In den nächsten Tagen tauchten, wie auch in den vergan genen Jahren zu dieser Zeit, nach und nach weitere Tagelöhner auf der Suche nach Arbeit auf. Ungefragt übernahm Helene es, die Listen zu führen. Jonas Weissgerber und seine Mädchen erhielten Arbeit, unterdessen erfuhren die Steins, dass Frau Weissgerber im vergangenen Jahr im Kindbett gestorben war.
»Oh, das tut uns leid«, rief Emmeline Stein aus und brachte drei Scheiben Brot mit dicker
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