Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
sagte ich doch schon.«
Helene ließ sich zurück in ihre Kissen sinken und atmete beruhigt durch. Sie hatte die Blicke gesehen, die Gianluca ihrer Schwester zugeworfen hatte, aber wenn die sein Interesse nicht erwiderte und außerdem ohnehin bald Anton heiratete, dann würde er sich umschauen, und dann würde sie da sein.
Wenn er kam.
Aber er würde kommen. Marianne hatte ihn gefragt. Marianne konnte niemand widerstehen. Er würde kommen. In zwei Wochen spätestens, dann hatte er seine Geschäfte in Mainz geregelt.
Helene schloss die Augen. Die Zukunft sah mit einem Mal gut aus, denn sie hatte einen Namen bekommen: Gianluca.
Und so endete der Tag, an dem sich ihrer aller Leben veränderte.
Wenn Helene in der folgenden Zeit zurückblickte, brachte sie die Einzelheiten nie mehr ganz zusammen. Gianluca Tozzi hatte Mariannes Angebot mit ernster Miene entgegengenommen und gesagt, dass er noch mit seinem derzeitigen Arbeitgeber, einem alten Pomeranzengänger, sprechen müsse. Die Familie brachte noch zwei weitere Tage bei Tante Juliane und Onkel Hubertus zu und kehrte endlich nach Bonnheim zurück, wo sich Vater Valentin Stein daranmachte, die nächste Weinlese vorzubereiten. Anton und Christoph stritten sich weiterhin, konnten aber auch nicht voneinander lassen und besuchten einander des halb fast täglich.
Am Mainzer Hof bestimmten nun kriegsfreudige Emi granten sowie Diplomaten und Militärs aus Wien und Berlin die Linie. Ein Manifest wurde entworfen, das den Franzosen für jeden Angriff auf die königliche Familie ein exemplarisches Strafgericht androhte. Doch die martialische Drohung verfehlte ihr Ziel. Am 10. August 1792 wurde in Frankreich die Monarchie gestürzt.
Helene verfolgte die Nachrichten nur am Rande. Jeden Morgen und immer wieder im Verlaufe eines jeden Tages, seit sie aus Mainz zurückgekehrt waren, trat sie auf die Straße, die am Hofgut ihrer Familie vorbeiführte, und hielt Ausschau. Gianluca Tozzi aber zeigte sich nicht.
Z weites Kapitel
»Lele, Lelchen? Was machst du denn hier so alleine?«
Mein Spitzname! Helene, eben noch vollkommen in ihren Gedanken versunken, fuhr herum. Sie hatte die ungewöhnlich leise Annäherung ihres Vaters nicht bemerkt, hatte ihn noch im Haus in seinem Arbeitszimmer gewähnt, wo er sich dieser Tage, vor der nahenden Weinlese, zumeist aufhielt. Ein Anflug schlechten Gewissens drängte in ihr hoch, war sie es doch, die ihm sonst bei der notwendigen Überprüfung der Bücher half, eine Arbeit, die Valentin seit jeher ungern getan hatte. Aber die vielen Spaziergänge und das Warten auf Gianlucas Ankunft hatten sie vollkommen das Hier und Jetzt vergessen lassen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Der Vater kam einen weiteren Schritt näher und tätschelte ihren Arm. Helene, Liebkosungen dieser Art nicht gewohnt, musste sich zwingen, stehen zu bleiben.
Ganz gleich, wie viel Zeit sie auch miteinander ver brachten, sie hatte stets den Eindruck gehabt, dass ihr Vater und sie einander fremd blieben. Marianne hingegen liebte er aus vollem Herzen, und mit Christoph, seinem Sohn, stritt er sich leidenschaftlich. Vielleicht hatte er einfach nicht mehr Liebe und nicht mehr Wut in sich, und sie, Helene, musste sich, wie so oft, mit den Resten begnügen? Aber vielleicht irrte sie sich ja auch, vielleicht irrte sie sich, und er liebte sie doch genauso, wie er seine anderen Kinder liebte …
»Soll ich dir helfen, Vater? Hast du mich deshalb gerufen?«
Helene schaute ihn fragend an. Der Vater schüttelte den Kopf so heftig, dass sein Doppelkinn ins Zittern geriet.
»Weißt du, Kleines, ich habe dich von dort aus beobachtet«, er deutete auf das Fenster des Arbeitszimmers, »und ich habe mich gefragt, was du hier draußen so alleine tust?«
Einen Moment lang sah Helene auf ihre Fußspitzen. Die Schuhe waren ein wenig staubig, weil sie heute Morgen wieder einen langen Spaziergang gemacht hatte, in der Hoffnung, er – Gianluca – werde endlich auftauchen. Sie hatte sich ausgemalt, ihn auf einem der Wege zu entdecken. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie einander grüßten, wie er sie erkannte und …
Dass ihr Vater am Fenster gestanden hatte, statt an seinem Schreibtisch zu sitzen, wunderte sie nicht. Er hasste Schreibarbeiten. Sie hob den Kopf. Er betrachtete sie unschlüssig.
»Ach, ich habe ein wenig geträumt«, sagte sie vage.
Valentin öffnete den Mund, schien noch etwas sagen zu wollen, doch sie kam ihm zuvor.
»Soll ich dir nicht doch helfen?«
Er zuckte die
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