Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
an jedem Tag strahlend schön am Tisch und half Schwester und Mutter bei der Ausgabe der Suppe. Die Blicke, die Gianluca der Älteren zuwarf, waren schwer zu ertragen, tröstlich allein, dass Marianne offenbar gar nicht darauf reagierte.
Helene seufzte, während sie sich den Löffel mit der Suppe zum Mund führte, obwohl sie doch gar keinen Hunger verspürte. Marianne hatte ganz recht mit dem, was sie einmal über die Liebe gesagt hatte: Sie war eine starke, unerklärliche Himmelsmacht.
D rittes Kapitel
Im goldenen Spätsommerlicht, das den Herbst bereits an kündigte, verströmten die Weinberge ihre Farben so üppig, als hätten sie zu viel davon. Im Wingert nahm die Arbeit so wie jedes Jahr seit Jahrhunderten schon ihren Lauf. Für jeden gab es Wein, wenn auch mit Wasser versetzt, um die Fässer zu leeren. Und Gianluca Tozzi lernte Zwiebelkuchen kennen und schätzen und tanzte zum Ausklang des Tages mit Marianne und Helene.
Gianluca arbeitete gerne im Wingert. Es war eintönige Arbeit, aber sie ließ ihm Zeit, über sein Leben nachzudenken, darüber, was gewesen war, und darüber, was sein würde. Über Marianne. Über Allegra, von der er nie geglaubt hatte, dass er sie vergessen könnte. Über seine Mutter, von der er lange keine Nachricht mehr erhalten hatte, nicht mehr, seit er vor etwa einem Jahr in Mainz eingetroffen war. Dem letzten Boten, der ihm einen Brief von ihr überbracht hatte, hatte er seine Antwort gleich mitgegeben. Danach war kein Brief mehr eingetroffen. Er hätte es sich anders gewünscht, aber die Heimat war wohl einfach zu weit entfernt. Nun, eines Tages würde er zurückkehren, als wohlhabender Mann mit Geld. Er würde Mammas Pasta essen, ans Meer gehen und den Son nenuntergang betrachten. Er würde ein neues Haus für seine Familie bauen.
Wieder einmal dachte er an den Tag, als Anna Tozzi ihn gefragt hatte, warum er denn nur immer fortwolle. Es gehe ihm doch gut, hatte sie gesagt und ihn über den Tisch hinweg vorwurfsvoll angeguckt, während sie den Nudelteig unablässig walkte und knetete, so wie sie es häufig getan hatte, wenn sie etwas beschäftigte. Eigentlich hatte sie immer etwas in den Händen gehabt: Gemüse, das geschält werden musste, Teig, der geknetet wurde, ein Kleidungsstück, dessen Löcher gestopft werden mussten. Der Duft der Gemüsefüllung, die über der Feuerstelle köchelte, kam in Gianlucas Erinnerung hoch, und er sah sich selbst an den Herd gehen, um ungeachtet der bedrohlichen Hitze einen Löffel davon zu stibitzen.
Luca!
Sie hatte ihn seltsamerweise immer Luca genannt, wenn sie ihn zurechtweisen wollte, so wie damals, als er noch ein kleiner Junge gewesen war.
»Vater ist auch fortgegangen«, hatte er gesagt.
»Es waren keine schönen Jahre für uns«, parierte sie, ohne zu zögern.
Gianluca war am Ende der Reihe Weinstöcke angekommen, die Kiepe voller Trauben. Mit dem schnellen, sicheren Tritt des Steilküstenbewohners brachte er sie zur Sammelstelle. Friedel, der alte Knecht und Freund der ersten Stunde auf dem Stein’schen Hof, lachte ihm zu. Gianluca erwiderte sein Lachen und setzte die Lesearbeit fort.
Wenige Monate nachdem der Vater damals zu ihnen zurückgekehrt war, hatte ihn das Meer geholt. Während eines Sturms war er einfach draußen geblieben wie so viele Fischer vor ihm. Seinen Leichnam hatte man nie gefunden. Gianluca erinnerte sich noch gut daran, dass seine Mutter in jenen Tagen viel geweint hatte. Auch waren viele Verwandte zu Besuch gekommen. Die Brüder seines Vaters, die um ihn und das Boot trauerten. Seine Tanten, die um die Mutter umherflatterten wie ein gurrender Taubenschwarm.
» Er fährt mir nicht aufs Meer«, hatte seine Mutter immer wieder gesagt und dabei Gianluca angeschaut. »Er nicht. Niemals lasse ich das zu. Ich will ihn nicht auch noch verlieren.«
Den kleinen Gianluca hatte ihr Verhalten verwirrt. Aber was sonst sollte er denn werden außer Fischer, hatte er sich gefragt, so wie sein Vater und vor ihm dessen Vater und so weiter bis an den Ursprung aller Tage. Sein Sohn sollte doch auch eines Tages Fischer werden, in der Frühe hinausfahren, dann den Fang zum Markt bringen und am Nachmittag die Netze flicken.
Doch seine Mutter war entschlossen gewesen. Gott hatte ihr den Mann und vor Jahren schon einen Bruder genommen. Ihren Sohn würde sie schützen. Und so hatte sich Gianluca im nächsten Monat in der Lehre bei einem Maurermeister in der Stadt wiedergefunden.
In den ersten Wochen war er allerdings immer wieder
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