Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Butter darauf für die dünnen Weissgerber-Mädchen, strich der Jüngsten, einer zarten Schwarzhaarigen mit einem spitzen Mäusegesicht, sanft über das Haar.
Außerdem angestellt wurden Karl Bach, ein mürrischer, jedoch kräftiger Bursche, und dessen Freund Melchior Kurtz, den Helene einmal sagen hörte, die Franken täten’s ganz recht mit dem verdammten reichen Pack und dem Adel und schlügen ihnen – hopplahopp! – den Kopf ab.
Zuerst hatte sie nicht weiter über die Bemerkung nach gedacht, doch abends, im Bett, war das Unbehagen in ihr aufgestiegen. Vielleicht stimmte es ja, was Christoph sagte, und die Zeiten würden sich bald auch hier, bei ihnen, ändern – wenngleich es Helene schwerfiel, sich das vorzustellen. Konnte die Welt denn so einfach auf dem Kopf stehen?
Am nächsten Tag verebbte der Strom der Arbeitssuchen den erstmals. Die Weissgerber-Mädchen erschienen zur Laubarbeit.
Bald würde die Gesindestube wieder voller Menschen sitzen, die sich nach getaner harter Arbeit die gute dicke Suppe Emmelines schmecken ließen.
Auch an diesem Tag dämmerte es schon, als Helene endlich die Feder zur Seite legte. Kurz reckte und streckte sie sich und massierte dann ihren schmerzenden Nacken. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung, wohl ein letzter Tagelöhner, der den Weg zum Hof der Steins gefunden hatte.
»Alles besetzt«, rief Helene, ohne den Neuankömmling eines Blickes zu würdigen.
»Helene?«, entgegnete eine Stimme fragend, die sie seit jener Begegnung in Mainz zu hören gehofft hatte. Jene Stimme, in der etwas Fremdheit mitschwang und die dem Mann gehörte, den sie für immer lieben würde.
Die kommenden Tage verbrachte Helene in einem stetigen Gefühlstaumel, dem sie nur während der Arbeit entkommen konnte. Und so prüfte sie morgens die Bücher für ihren Vater und machte die nötigen Eintragungen, half dann bei der Vorbereitung der Mittagssuppe für die Knechte und Mägde, bot sich nachmittags sogar an, zu den Pausen Brot und dünnen Wein zum Stein’schen Win gert zu tragen, wo die Arbeit im Jahreskreis ihren weiteren Lauf nahm.
Als Letzten hatte sie Gianluca auf die Liste der Helfer gesetzt. Doch bis die eigentliche Arbeit im Weinberg begann, besserte der Italiener vorerst die Hofgebäude und das Dach aus. Manchmal hörte Helene ihn bei der Arbeit singen. Das war neu für sie. Sie kannte niemanden, der bei der Arbeit sang, und es befremdete und faszinierte sie gleichermaßen. Einmal nahm sie allen Mut zusammen und fragte ihn, warum er erst so spät gekommen sei.
»Weil ich meinen alten Arbeitgeber nicht im Stich lassen wollte«, gab Gianluca lächelnd zur Antwort, und ihr wurde warm ums Herz. Dann fügte er hinzu: »Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, aber jetzt weiß ich, an wen Sie mich erinnern, Fräulein Helene.«
»Ja?«
»An meine kleine Schwester. Ich vermisse sie sehr.«
Seine kleine Schwester! Helene gab keine Antwort. Viel später am Abend noch musste sie an seine Worte denken, und sie musste sich sagen, dass er es gut meinte, auch wenn es wehtat.
Von Marianne war in diesen frühen Tagen nach Gianlucas Ankunft wenig zu sehen, und Helene war froh darum. Wenn die Jüngere morgens das gemeinsame Zimmer verließ, war Marianne noch nicht aufgestanden. Lief Helene zur Zehn-Uhr-Mahlzeit noch einmal nach oben, um ihr Aussehen im Spiegel zu überprüfen, saß die Schwes ter meist noch im Morgenmantel am Frisiertisch und las in einem ihrer kleinen Romane, derzeit Sophie von La Roches Das Fräulein von Sternheim . Auch Goethes Die Lei den des jungen Werthers hatte sie begeistert verschlungen, das Schicksal Emilia Galottis ebenso beweint wie das von Schillers Karl Moor.
Nach dem Tee am Nachmittag tauchte zuweilen Anton auf, bat sich beim Vater aus, mit Marianne ausfahren zu dürfen, was der erlaubte, solange Helene ebenfalls mit von der Partie war. Zumeist lenkte Anton den Wagen auf diesen Ausflügen auf Mariannes Wunsch zum Schluss zu dem alten verfallenen Weinberghäuschen hin, bei dem sie als Kinder alle gemeinsam gespielt hatten. Es stand etwas abseits, in einem Teil des Stein’schen Wingerts, der vorerst aufgegeben worden war, weil die Stöcke nicht mehr recht tragen wollten. Früher einmal war ihnen das Häuschen eine Burg gewesen oder ein großes Schiff. Hier waren Prinzessinnen, Ritter und Könige, Kapitäne und Piraten aus ihnen geworden, aber dieser Zauber wohnte nun der Vergangenheit inne und ließ sich nicht mehr recht fassen.
Zur Nachtspeise stand Marianne
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