Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
zum Hafen gelaufen, hatte den Fischern bei der Ar beit zugesehen und die eigene darüber vernachlässigt. Der Meister, Beppo Camillieri mit Namen, hatte es geschehen lassen. Beppo war nachsichtig gewesen gegenüber dem Zehnjährigen, der nicht wusste, wohin mit seinem Schmerz und der Sehnsucht nach dem alten Leben, das sich so plötz lich geändert hatte.
Eines Tages – Gianluca war wieder einmal davongelaufen, saß beim Hafen auf der Mauer und schaute aufs Meer hinaus – stand der Meister auf einmal neben ihm. Stur sah Gianluca weiter aufs Meer hinaus, zum Horizont hin, wo eine rotgelbe Sonne sich eben anschickte zu versinken.
»Wie schön ist das«, sagte Beppo da. »Ich war schon so lange nicht mehr hier, dass ich es fast vergessen hatte.«
Gianluca starrte weiter schweigend zum Horizont, als habe er nichts gehört.
»Und die Berge.« Beppo stützte die Hände auf der Mauer ab – Hände, die von glitzerndem Steinmehl überzogen waren, was so hübsch aussah, dass Gianluca nach einem ersten kurzen nun doch einen längeren Blick darauf werfen musste. Und dann hatten sie einander vielleicht zum ersten Mal wirklich angesehen.
»Darf ich dir etwas zeigen?«, fragte Beppo vorsichtig.
Gianluca nickte. Was blieb ihm auch anderes übrig. Camillieri war der Meister. Er musste gehorchen. Schwei gend trottete er also hinter ihm her, zur Werkstatt zurück. Der Geselle war noch dabei aufzuräumen. Beppo führte Gianluca weiter, durch den Hof hindurch und zu einer kleinen Tür hin, die er umständlich mit einem großen Schlüssel öffnete. Dann entzündete er ein Öllämp chen, das den kleinen Raum bald in warmes Licht tauchte.
In diesem Moment sah Gianluca erstmals eine weitere Werkstatt, kleiner als die, die er kannte. Eine zierliche Figur, kaum eine Handspanne hoch, stand auf der Arbeitsplatte. Gianluca wusste später nicht, wieso es in diesem Augenblick geschehen war, aber er verliebte sich in diese Figur, und er wollte plötzlich nichts sehnlicher, als ebensolche Figuren herstellen zu können.
Von da an war er ein ordentlicher Lehrling. Er lernte, Mauern lotrecht nach oben zu ziehen, Wände zu verputzen und Wände einzuziehen. Er wurde tagsüber zu einem Maurer ausgebildet, und abends wies Meister Camillieri ihn in die Kunst der Steinbearbeitung ein.
Auch nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen hatte, war er bei dem alten Meister geblieben, dann, mit acht zehn Jahren, hatte er zum ersten Mal das Bedürfnis gehabt, in die Ferne zu gehen.
»Ich will neue Sachen kennenlernen«, sagte er damals zu Beppo, »ich bin ein guter Maurer, und ich will ein noch b esserer Steinmetz werden.«
Seine Mutter hatte geweint. Noch einmal badete er, ge meinsam mit seinem Freund Francesco, genannt Franci, im Meer. Danach ließen sie sich in der Sonne trocknen. Ihre Körper, jungenhaft und doch männlich, hoben sich sonnengebräunt vom grauen Sand ab.
Auf dem Bauch liegend hatte Gianluca begonnen, mit einer Hand ein Loch zu graben.
»Ich werde deine Schwester heiraten, Franci«, sagte er. »Pass auf sie auf, bis ich zurückkomme.«
Franci lachte. »Noch nie hat ein Tozzi eine von uns geheiratet.«
Beleidigt fuhr Gianluca auf. »Bin ich dir nicht gut genug? Gönnst du es mir nicht?«
»Doch, niemandem mehr als dir.« Der Freund schaute ihn jetzt ernst an. »Aber vielleicht sagst du es ihr selbst … Und sorg um Himmels willen dafür, dass du dein Glück schnell machst und zurückkommst. Die Fremde ist gefährlich und die Weiber unstet.«
Gianluca tauchte wieder aus den Gedanken. Mittlerweile hatte er eine weitere Kiepe gefüllt. Für einen Moment hielt er inne und sah hügelabwärts, wo die Stein-Töchter gerade Getränke und Brote herumreichten. Es waren beides nette Mädchen, wenn auch nur die Ältere schön zu nennen war.
Dann dachte er wieder an zu Hause. Seit nunmehr drei Jahren war er nicht mehr dort gewesen. Er war von seinem Heimatort nach Genova gelaufen und hatte dort im Hafen gearbeitet, bis er genügend Geld gehabt hatte, um weiterzureisen. Er war über die Alpen mar schiert, wo ihn ein Unwetter fast das Leben gekostet hatte. Immer wieder hatte er sich Arbeit gesucht, war mal misstrauisch beäugt, sogar verhaftet worden. Die längste Zeit hatte er beim Bau eines Hauses in Mannheim verbracht. Von der Kurpfalz war er nach Kurmainz gewechselt.
Sicherlich hat Allegra längst geheiratet, beruhigte er sich, sicherlich hat sie längst ihr erstes Kind. Ohne Zweifel hatte sie ihn vergessen. Heute tat ihm der Gedanke noch
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