Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
zwanzig Jahre alt sein, war schlank und etwa mittelgroß, kleiner als Christoph, größer als sie selbst.
»Signorina«, grüßte er sie und verbeugte sich schwung voll und durchaus elegant.
Ein Italiener, dachte Helene, und es war dieser Moment, in dem sie erstmals zu spüren vermeinte, wie ihr Herz für einen Wimpernschlag aussetzte und dann sehr viel schneller weitertrommelte. Es war ein nie gekanntes Gefühl, das sie über alle Maßen erstaunte.
»Signorina«, wiederholte der Mann etwas lauter, »ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt?«
Helene nahm allen Mut zusammen.
»Nein«, entgegnete sie stockend, während sich verwirrende Gedanken in ihrem Kopf jagten und ihr die Röte heiß in die Wangen stieg.
Was ist nur mit mir, versuchte sie sich zur Räson zu rufen, was ist nur geschehen? Ein Mann ist vor meine Füße gefallen und spricht nun mit mir – na und? Das ist kein Grund zur Aufregung, nicht an einem solchen Tag. Sie straffte die Schultern.
Der Italiener sprach makellos Deutsch, wenn auch ein kleiner, unbekannter Tonfall mitschwang, der sie neugierig machte. Sie kannte Pomeranzengänger aus Mainz, befreundete Händler aus dem Haus ihres Onkels und ihrer Tante. Es gab durchaus Italiener in der Stadt. Dieser hier war gewiss nicht der erste, mit dem sie Bekanntschaft machte.
»Ich bin Gianluca«, sagte der Italiener nun und lächelte wieder. »Gianluca Tozzi.«
»Sie sind Italiener«, sagte Helene heiser und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Das wusste er ja nun gewiss selbst.
Gianluca Tozzi aber nickte nur. »Ja, ich stamme aus der Gegend von Genova. Kennen Sie die Stadt?«
Helene nickte und fühlte neuerlich Rot in ihre Wangen steigen.
»Genua, ja, natürlich.«
»Und wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?«
»Helene«, flüsterte sie. »Helene Stein. Aus Bonnheim.« Sie machte eine kurze Pause. »Das liegt bei Kreuznach«, fügte sie dann hinzu.
Der Italiener nickte und musterte sie immer noch vol ler Freundlichkeit. Sie wollte den Kopf senken und musste ihn doch anstarren.
Ich will, dass er hierbleibt, dachte sie, ich will, dass er hierbleibt.
Und dann suchte sie nach neuen Worten, Worten, die ihn dazu brachten, weiter mit ihr zu sprechen, sie weiter anzulächeln, bei ihr zu bleiben.
Was hätte Marianne wohl an meiner Stelle gemacht? Ausgefragt hätte sie ihn, da war Helene sich sicher, mit einem Lächeln und einem leichten Scherz auf den Lippen. Sie aber bekam keinen Ton heraus. Vielleicht war es also doch besser, wenn er jetzt ging und sie sich nicht weiter zur Närrin machte.
Aber ich will nicht, dass er geht, begehrte etwas in ihr auf, ich möchte, dass er bleibt. Ich möchte ihn ansehen.
Helene nahm alle Kraft zusammen und schaute auf den Fluss hinaus, der immer noch im Widerschein des Feuerwerks leuchtete und funkelte. Seit Anbeginn ihrer Be gegnung war da diese Stimme in ihr, die sagte: Bleib, bleib bei mir. Lass mich dich ansehen. So etwas hatte sie noch nie gespürt, noch nie in ihrem ganzen Leben.
»Es ist ein wunderbares Feuerwerk«, sagte der Mann jetzt – Gianluca, wiederholte Helene bei sich, Gianluca –, »aber von der Favorite aus muss es wahrhaft herrlich aussehen. Schade, dass ich es nicht bis dorthin geschafft habe.«
Noch einmal klopfte er sich über seine Kleidung und entfernte die letzten Schmutzspuren. Helene nahm allen Mut zusammen.
»Was wollten Sie dort? Waren Sie eingeladen?«
Er lachte auf. »Aber nein, so einer wie ich doch nicht. Ich wollte mich hineinschmuggeln.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich hoffe, Sie verraten mich nicht, Signorina.«
»Nein.« Wieder fiel Helene nichts Besseres ein als diese knappe Antwort.
»Ich bin nämlich Baumeister«, ergänzte Gianluca selbst. »Ich suche Arbeit und möchte mich gerne einem großen Herrn andienen.«
»Das ist sehr … sehr interessant«, brachte sie heraus, doch Gianluca hörte ihr jetzt nicht mehr zu. Sein Blick war auf jemanden gefallen, der schräg hinter ihrer linken Schulter aufgetaucht sein musste. Eine neue Feuergarbe wanderte hoch über den Himmel. Als Gianluca lächelte, wusste Helene, ohne dass sie sich hätte umdrehen müssen, wer da gekommen war.
»Meine Schwester Marianne«, stellte sie die Ältere vor und unterdrückte einen tiefen Seufzer.
Marianne kam näher, die Füße nackt, wie Helene jetzt bemerkte, das Haar vom Tanz noch ein wenig gelöster, ihr Anblick noch ein wenig bezaubernder. Sie sah Gianluca lächeln, sah ihn lächeln, wie es alle taten, die
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