Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Flugblatt, das er studierte. »Unsere Kleine ist doch ein Mensch, ist das nicht schön?«
Marianne nickte langsam. Natürlich war das schön, aber sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass es auch gefährlich war.
Einige Tage später und entgegen allem, was sie sich vorgenommen hatte, ging Marianne erneut zu Gianluca, der, vom Vater vorübergehend freigestellt, nun nachmittags oft beim Gartenhaus arbeitete. Sie nahm sich vor, über He lene zu sprechen, ihm von Anton zu erzählen und von der Zukunft, wie sie auszusehen hatte. Doch noch bevor sie sich ihm näherte, war ein Zittern in ihr wie ein ganzer Schwarm Schmetterlinge. Ungewohnt war es, und irgendwie schön.
Die Statue hatte an Konturen gewonnen, seit sie sie zuletzt gesehen hatte, und Gianluca war auch dieses Mal bei ihrer Ankunft so vertieft in ihre Betrachtung, dass er sie vorerst nicht bemerkte. Er streckte die Hände aus, machte einige geschmeidige Bewegungen, als messe er die Abstände, lief dann um die Skulptur herum. Als sein Blick endlich auf Marianne fiel, blieb er stehen und schaute sie einige Atemzüge lang unverwandt an.
Marianne bemerkte, wie sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete. Ein vertrautes Gefühl, das ihr sagte, dass auch sie hier stehen bleiben und ihn anschauen wollte. Ihr Kopf war mit einem Mal wie leer gefegt.
Was hatte sie noch sagen wollen? Weswegen war sie gekommen?
Gianluca sprach als Erster.
»Ich dachte nicht, dass du noch einmal kommst«, sagte er so behutsam, als fürchte er, sie doch noch mit seinen Worten zu verjagen.
Du darfst nicht alleine mit ihm sprechen, durchfuhr es Marianne, deine Schwester liebt ihn. Geh nach Hause, lass es nicht weitergehen. Jedes weitere Wort ist Verrat an ihr. Jedes weitere Wort ist ein Weg, den du nicht gehen darfst. Helene liebt ihn von ganzem Herzen und mit jeder Faser ihres Seins. Du könntest ihr nichts Schlimmeres antun, als jetzt zu bleiben.
Sie atmete tief durch. Und du könntest dir nichts Schlimmeres antun, als jetzt zu gehen, dachte sie.
»Gianluca«, sagte Marianne also und konnte zum ersten Mal in ihrem Leben ihre eigene Stimme zittern hören. Sie biss sich auf die Lippen, doch nun war sein Name heraus und konnte nicht mehr zurückgezwungen werden. Ein wenig ärgerte sie sich doch darüber.
Helene liebt ihn, das darfst du ihr nicht kaputt machen. Wir sind doch Schwestern. Freundinnen. Vertraute.
»Marianne«, sagte Gianluca nun in jenem weichen Singsang, der ihr Herz unweigerlich zum Flattern brachte.
Das darfst du nicht, ermahnte sie die innere Stimme, hör ihm nicht zu, Helene liebt ihn. Anton liebt dich, er wird ein guter Ehemann sein. Du musst nur der Hochzeit zustimmen. Du solltest das gleich morgen tun … oder heute noch … Ja, heute noch. Alle werden sich freuen, alle werden glücklich sein.
Sie räusperte sich.
»Geht es voran?«
Gianluca lächelte. »Ja.«
Marianne trat noch einige Schritte näher. »Bist du zufrieden?«
»Nein«, er lachte, »aber das bin ich nie.«
Sie zögerte. »Hast du schon viele solcher Figuren gemacht?«, fragte sie dann. »Zu Hause, meine ich?«
Gianluca schaute die Madonna an, dann wieder Marianne.
»Ein paar. Ich habe eigentlich mehr geschnitzt.«
Er hob seinen Rock auf, den er zur Seite gelegt hatte, ließ seine rechte Hand in einer Rocktasche verschwinden, zog sie hervor und offerierte ihr mit einer eleganten Bewegung ein kleines Holzvögelchen.
»Per te.«
»Es ist wunderschön«, murmelte Marianne, nachdem sie es eingehend betrachtet hatte. Sie erkannte eine Meise. Das kleine Tier hielt den Schnabel geöffnet. Es wirkte so lebendig, als sei es echt.
»Ich danke dir, aber ich kann das nicht annehmen«, sagte sie dann und streckte die Hand mit dem Vogel wieder zu ihm hin. Gianluca schüttelte den Kopf und schloss ihre Finger darum.
»Das ist ein Geschenk«, sagte er, »und es kommt von Herzen. Du darfst es nicht ablehnen.«
Nein, dachte sie, das darf ich nicht. Man darf nichts ablehnen, was von Herzen kommt.
Und damit geriet der Stein ins Rollen und ließ sich nicht mehr aufhalten.
»Besuch mich wieder«, sagte Gianluca, als sie sich verabschiedeten, »besuch mich, wenn ich an der Madonna arbeite.«
Marianne nickte, doch als der mögliche Tag herankam, war sie fest entschlossen, nicht zu gehen. Früh am Morgen versprach sie der Mutter und Helene, ihnen beim Einmachen von Äpfeln zu helfen, was die beiden mit erstaunten Blicken quittierten, denn Marianne hasste eigentlich jede Form von Hausarbeit. Marianne
Weitere Kostenlose Bücher