Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Nacht verlassen. Zweifelsohne gerieten die Dinge endlich wirklich in Bewegung.
F ünftes Kapitel
Marianne hatte die Schuhe ausgezogen, um barfuß durch den Garten zu streifen. Sie liebte das Gefühl von Gras an ihren Fußsohlen, liebte dieses leichte Kitzeln, liebte den feuchten Morgentau, wenn sie es doch einmal geschafft hatte, früh aufzustehen, ebenso wie die knisternde Wärme und den Geruch trockenen Sommergrases oder die volle Süße des Herbstes. Sie liebte es auch, Erde unter ihren Fußsohlen zu spüren. Sie liebte es, wenn die Sonne warm auf sie herniederschien, ebenso wie sie den Regen liebte. Obwohl es niemand glaubte, war sie eine einfache Person, deren Bedürfnisse gering waren: Sie wollte sich spü ren. Sie wollte Entscheidungen über ihr Leben treffen. Die ser späte Samstagnachmittag im Oktober barg in jedem Fall noch alles in sich. Es war ein neuer Tag, ein neues Versprechen. Ein neuer Kampf ums Glück. Es war ein wenig Sommer und ein wenig Herbst. Die Sonne schien so blass und hell, dass sie Marianne an eine Zitronenscheibe erinnerte.
Entgegen ihren Gewohnheiten war sie heute früh aufgestanden und hatte die Einsamkeit und Stille des Morgens schon genossen, bevor sie die Eltern und ihre Geschwister zur Frühmesse begleitete. Auch Gianluca war da gewesen, und sie hatte sich dieses Mal, Helene zuliebe, länger Zeit genommen, ihn zu betrachten.
Der Italiener war wirklich ein gut aussehender Mann. Er hatte bei den anderen Knechten des Gutes gesessen, die Arme locker an den Seiten, die Hände auf den Knien. Sie saß nahe genug bei ihm, um seine Hände genauer betrachten zu können. Recht breit waren die und zeug ten von harter Arbeit, die Finger kräftig, dabei jedoch lang und elegant.
Sie gefallen mir, war Marianne unvermittelt durch den Kopf gefahren, seine Hände gefallen mir. Sie hatte sich vorgestellt, dass diese Hände vorsichtig sein konnten, eben so wie sie fest zupackten, wenn es nötig war. Über den ganzen Gottesdienst hinweg hatte er den Kopf erhoben gehalten und zum Jesus am Kreuz hinaufgeblickt. Sie konnte sehen, dass sich seine Lippen unablässig bewegten.
Offenbar betete er. Sie selbst dachte oft an vielerlei Dinge, wenn sie sich im Gottesdienst befand. Es war eine Zeit, in der ihre Gedanken abschweiften, in denen sie sich ein Wort aus der Predigt des Pfarrers nahm und damit in ihrer Fantasie spazieren ging.
Auch Helene hatte an diesem frühen Samstagmorgen wieder einmal kaum den Blick von Gianluca nehmen können. Ab und an hatte Marianne der Jüngeren etwas zugewispert, damit es nicht gar zu offensichtlich wurde. Es war allerliebst zu sehen, wie die Kleine zuverlässig errötete, wenn sie in die Nähe des Italieners kam.
Marianne blieb kurz stehen und schaute in Richtung des Haupthauses, das mittlerweile hinter den Obstbäumen verschwunden war. Bald würde das Gartenhaus auftauchen. Von einem Baum pflückte Marianne einen frühen Apfel und biss kräftig hinein, fing den Saft, der ihr über das Kinn lief, mit dem Handrücken auf und schüttelte sich ob des sauren Geschmacks.
Tock, tock, tock machte es plötzlich in kurzer Entfer nung. Dann folgte ein helleres Klirren. Mariannes Kopf flog herum. Was war das nun für ein Geräusch? Es klang wie Metall auf Stein. Sie lauschte noch einmal und war sich dann sicher: Ja, sie hatte recht. Hier traf Metall auf Stein. Ein dumpfes Geräusch mischte sich mit einem helleren Klirren.
Tock, tock, tock machte es wieder. Marianne ging weiter. Das Gartenhäuschen tauchte zwischen den Obstbäumen auf. Eigentlich war es kein wirkliches Gartenhäuschen, denn hier hatte ihre Familie gewohnt, bis der Vater das neue, große Haus zu bauen begonnen hatte, und der Großvater hatte es bis zu seinem Tod nicht verlassen. Oben fanden sich mehrere kleine Schlafräume, unten waren der Flur, eine Küche und die gute Stube.
Marianne ging um das Gebäude herum. Dann blieb sie unvermittelt stehen, als habe sie eine fremde Macht angehalten, als habe jemand etwas in ihren Weg gelegt, an dem sie einfach nicht vorbeigehen konnte. Sie blieb stehen, weil eine innere Stimme ihr mit einem Mal sagte, dass sie nicht hier sein sollte.
Geh nicht weiter, sagte die Stimme, geh nicht weiter. Wenn du jetzt weitergehst, wird sich alles ändern. Wenn du jetzt weitergehst, gibt es kein Zurück.
Doch sie blieb nicht stehen. Sie ging weiter, und dann sah sie ihn. Gianluca hatte sein Hemd abgelegt, hielt den Meißel in der Linken und den Hammer in der Rechten, vollführte im
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