Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
nächsten Moment ein paar schnelle, leichte Schläge, die Steinbröckchen davonspritzen ließen, und betrachtete seine Arbeit gleich darauf prüfend. Er hatte dabei den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht, den Marianne schon in der Kirche gesehen hatte, ein Ausdruck, der zeigte, dass er ganz bei der Sache war und meilenweit von allem anderen entfernt.
»Was tust du da?«, rief sie unvermittelt aus.
Der junge Italiener fuhr herum. Er bemerkte sie tatsächlich erst jetzt. Das Lächeln, das sich im nächsten Moment auf seine Gesichtszüge malte, ließ nicht nur seine Augen aufleuchten.
»Signorina, liebes Fräulein Stein.«
Sie musste zugeben, dass sie auch den Klang seiner Stimme mochte. Mit einer raschen Bewegung griff er nach seinem Hemd und zog es sich über. Marianne sah auf seine von glitzerndem Steinstaub überzogenen Hände, erhaschte einen Blick auf seinen flachen Bauch und das Spiel seiner Muskeln, bevor das Hemd sie verbarg. Natürlich hatte sie schon Statuen nackter Männer gesehen, auch den Bruder und seinen Freund beim Baden im Fluss, doch noch niemals hatte sie sich dabei solche Gedanken gemacht, Gedanken, die plötzlich da waren, Gedanken, von denen sie keine Ahnung gehabt hatte. Verstörende Gedanken. Sie war froh, als er ihr ohne Umschweife Antwort gab.
»Ich …«, sagte er, und es klang ein wenig wie »ig«, »mache eine Figur für Ihren Vater.«
»Ja?« Marianne betrachtete den Stein, aus dem sich bisher nur wenige Umrisse herausschälten. »Das hier wird der Kopf?«, fragte sie nach einer Weile und deutete auf eine Stelle.
Gianluca nickte, während er sie mit ähnlicher Aufmerksamkeit anschaute wie sie die im Entstehen begriffene Statue.
»Es wird eine Maria«, erklärte er dann weiter und zeigte eine Höhe von etwa einer Elle an. »Ihr Vater möchte sie über der Haustür anbringen, als Geschenk für Ihre Frau Mutter.«
Marianne nickte. Das alte Figürchen, das dort schon seit einigen Jahrzehnten stand, war reichlich verwittert, und die Mutter hatte sich schon häufiger ein neues gewünscht. Das neue Figürchen würde natürlich ebenfalls geweiht werden. Es würde ein Fest geben, auf das sie sich jetzt schon freuen konnte. Unwillkürlich streckte Marianne die Hand nach dem Stein aus. Sie wusste nicht, warum sie die nächsten Worte sagte, und als sie ausgesprochen waren, hätte sie sie am liebsten zurückgenommen.
»Haben Sie ein Vorbild für Ihre Statue? Künstler haben doch immer ein Vorbild, oder nicht?« Sie lächelte keck, auch wenn ihr plötzlich nicht mehr danach zumute war.
»Ja«, sagte Gianluca und schaute sie fest an. »Ich habe ein Vorbild. Ich könnte kein schöneres haben. Die Maria wird Ihnen gleichen, Marianne.«
Am nächsten Tag bereute Marianne es, dass sie in diesem Moment einfach davongelaufen war, wie ein kleines Mädchen, das sich vor dem bösen Wolf fürchtete. Und noch dazu hatte sie ein schlechtes Gewissen, sobald sie Helene gegenübertrat.
Ich habe das nicht gewollt, dachte Marianne ein ums andere Mal und sah die kleine Statue vor ihrem inneren Auge, die unter Gianlucas Händen entstand und ihr ähn lich sehen sollte. Ich muss Helene sagen, dass ich das nicht gewollt habe.
Aber sie brachte kein Wort über ihre Lippen.
»Ich glaube, heute hat er mich beobachtet«, sagte Helene, und Marianne schwieg. Oder die Jüngere berichtete voller Glück: »Heute hat er meine Hand berührt, Mimi, glaubst du, er mag mich doch?«, um dann mit gerunzelter Stirn hinzuzufügen: »Er hat mir gesagt, ich sähe aus wie seine kleine Schwester.«
Marianne dagegen dachte an eine kleine Statue, von der sie hoffte, sie werde nie fertiggestellt, und flehte den Himmel und seine Engel darum an, dass Helene ihr nicht weiter von Gianlucas Aufmerksamkeiten erzählte, doch vergebens.
Helene war glücklich, sie war so übermäßig offensichtlich glücklich, dass es Marianne mit der Angst bekam. Noch niemals zuvor hatte sie die kleine Schwester so überwältigt erlebt. Helene war nie über die Stränge geschlagen, hatte den Eltern nie Ungemach bereitet. Marianne konnte sich auch nicht daran erinnern, dass sie je etwas Unvernünftiges oder gar Dummes getan hatte. Seit sie aber verliebt war und seit Marianne das wusste, konnte man sich über nichts mehr sicher sein.
»Helene hat sich verändert«, sagte Marianne einmal beiläufig zu Christoph, in der Hoffnung, dass sie ihre Sorgen wenigstens mit ihm teilen konnte.
»Lass sie doch«, erwiderte der nur lachend und nahm den Blick kaum von dem
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