Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
aber biss die Zähne aufeinander und setzte sich zu Mutter und Schwester, und es wurde ein lustiger Morgen, bis zu dem Zeitpunkt, als ein Bote Helene einen Brief von Tante Juliane brachte und die Schwester sich zurückzog, um gleich ihre Antwort zu schreiben und diese postwendend mit dem Mann zurückzuschicken.
Es war dieser Moment gewesen, erinnerte Marianne sich später, an dem sie den Hof verlassen hatte. Sie ging durchs Tor hinaus und dann ein Stück die Straße entlang, die noch feucht war und etwas schlammig vom letzten Regenguss. Sie nahm nicht den kurzen Weg hinten durch den Garten, sondern machte einen weiten Bogen und schlüpfte schließlich durch eine Seitenpforte.
Nur bis zur nächsten Ecke, sagte sie sich.
Doch sie blieb auch an der nächsten Ecke nicht stehen. Sie ging noch eine Ecke weiter, dann noch eine, bis zum letzten Apfelbaum, von dem es nur noch wenige Schritte bis zum Vorhof des Gartenhauses waren.
Nur, bis ich das Häuschen sehe, sagte sie sich dann, und kurz darauf: Nur, bis ich Gianluca sehen kann. Wenn ich ihn sehe, dann drehe ich um und gehe zurück.
Und dann stand sie plötzlich vor dem Haus. Gianluca, der gerade auf einem Stein ausruhte, sprang auf. Seine Augen leuchteten auf, von einem Augenblick auf den anderen strahlte sein ganzes Gesicht vor Freude.
Beide bekamen sie vorerst kein Wort heraus.
»Marianne«, sagte er endlich langsam, sprach ihren Namen dabei so behutsam aus, dass ihr ein Schauer über den Körper lief. Sie presste die Lippen fest aufeinander und schaute an ihm vorbei auf das Haus. Verräterin, dachte sie.
»Marianne«, sagte Gianluca noch einmal mit der gleichen Behutsamkeit. Marianne zog die Schultern hoch und kämpfte gegen das Gefühl der Kälte an, das sie überkommen wollte. Sie war unsicher, was nun geschehen sollte. Noch nie, noch nie zuvor in ihrem Leben war sie sich so unsicher gewesen.
Als Gianluca Anstalten machte, sich zu nähern, schüttelte sie heftig den Kopf. Der junge Mann ließ die Hände sinken.
»Die Statue ist fertig«, sagte er nach einer Weile, »willst du sie sehen?«
»Ja.« Marianne versuchte zu lächeln. Wie selbstverständlich waren sie zum »du« gewechselt.
Gianluca streckte die Hand zu ihr hin. Sie ignorierte sie und trat an ihm vorbei, näher zu seiner Arbeitsstelle hin.
Die Statue stand auf dem kleinen, ihr schon bekannten Block, das Gesicht gegen die Sonne gedreht. Die Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Antlitz, fand Marianne, war unverkennbar, wenn nicht sogar verblüffend.
»Helene …«, entfuhr es ihr. Ich habe sie verraten, flüsterte ihr die innere Stimme zu, ich bin es nicht wert, ihre Schwester zu sein.
Gianluca legte eine Hand auf die Statue.
»Deine kleine Schwester ist ein liebes Mädchen«, sagte er in die Stille, als habe er ihre Gedanken gelesen.
»Das ist sie«, Marianne nickte heftig, »und sobald ich Anton heirate, wird sie auch heiraten dürfen.«
Sie hatte den Kopf kurz gesenkt und schaute ihn jetzt wieder an, bereit, etwas zu sagen, doch dann schloss sie den Mund unvermittelt. Auch Gianluca sagte nichts, trat nach kurzem Schweigen auf sie zu und legte ihr die Hand gegen die Wange, so wie er es eben noch bei der Statue getan hatte.
Ich muss ihn zurückweisen, dachte Marianne.
Aber sie blieb stehen. Es war, als hielten sich ihre Augen aneinander fest. Marianne legte den Kopf zur Seite, schaute auf Gianlucas glänzendes, lockiges Haar, spürte, wie ihr Körper weich wurde.
Vielleicht hatte sie ihm ein Zeichen gegeben, sie wusste es nicht. Unvermittelt legte er die Arme um sie. Als er begann, Küsse von ihren Lippen zu pflücken, war jeder Gedanke, ihn von sich zu stoßen, vergessen.
Wenn sie sich liebten, wurden sie wieder zu Kindern, und sie wurden zu Mann und Frau. Sie spielten Fangen und jauchzten dabei. Sie hätten Angst davor haben müssen, gehört zu werden, doch sie taten es nicht. Sie hatten keine Angst – vor nichts und niemandem.
Zum wiederholten Mal holte Gianluca Marianne jetzt ein und hielt sie am Arm fest, und sie warf den Kopf mit ihrem langen Haar zurück, dass ihm die Strähnen ins Gesicht schlugen und er gleichermaßen schrie vor Schmerz und doch lachte. Dann ließ sie sich fallen und zog ihn mit sich. Gemeinsam kugelten sie durch das feuchte Herbstgras, blieben endlich liegen, erst sie auf ihm, dann er auf ihr, während er sich auf seine Arme stützte, um sie nicht zu sehr mit seinem Gewicht zu belasten.
Vorsichtig strich er ihr das Haar aus dem erhitzten Gesicht. Unter seinem
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