Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
nicht …?«
»Lügen? Aber Lelchen, man muss doch zu seinen Ansichten stehen.«
»Muss man das? Es war schöner früher, als ihr euch nicht gestritten habt.«
»Das wäre Heuchelei und Lüge. Lass dir beides vom Pfarrer erklären, wenn du es nicht verstehst.«
Helene ließ den Arm ihres Bruders unvermittelt los. Er konnte furchtbar verletzend sein, wenn er einfach so daherredete, um sich dann im nächsten Moment zu entschuldigen. Warum dachten eigentlich alle, das mache ihr nichts aus? Sie musste sich mit einem Mal auf die Unterlippe beißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Christoph schaute sie besorgt an. Offenbar bemerkte er, dass er zu weit gegangen war. Etwas unschlüssig streichelte er ihr über den Oberarm.
»Kommst du heute mit? Anton, Marianne und ich wol len einen Ausflug machen.«
Helene reagierte nicht. Sie hatte keine Lust, das überflüssige Rad am Wagen zu spielen, denn das würde sie zweifelsohne sein. Sie war die Kleine, die Jüngere, die, die niemand für voll nahm.
»Nein, ich helfe Mutter.« Sie biss sich wieder auf die Unterlippe. »Vielleicht schaffe ich es ja, Vater bis dahin zu beruhigen. Es wäre doch schön, wenn wir un sere Nachtspeise alle gemeinsam und in Ruhe einnehmen könnten.«
Christoph hob die Augenbrauen. »Du setzt die falschen Prioritäten, Kleines«, sagte er, kniff ihr zart und neckend in eine Wange und ging dann pfeifend auf den Hof hinaus.
Wie zu der Zeit, als er noch ein Junge gewesen war, zog sich Christoph dieser Tage häufiger auf den Dachboden zurück, nur dass es heute die ganz gewöhnliche Privilegierte Mainzer Zeitung war, der seine Aufmerksamkeit galt, und nicht einer Tabakspfeife oder irgendeinem skandalösen französischen Druck. In der Mainzer Zeitung hatte er zuerst vom Sturm auf die Bastille gelesen, und sie hatte später auch eine deutsche Übersetzung der »Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789« gebracht. Zuweilen las Christoph den Moniteur , wenn sein mangelndes Französisch die Lektüre auch quälend langsam vorangehen ließ, und er brannte darauf, sich so bald als möglich in den Mainzer Buchhandlungen mit Schriften einzudecken, die die Franken gerüchteweise über Straßburg oder Landau einschleusten.
An diesem Tag hatte Marianne ihn offenbar hinaufschleichen sehen und folgte ihm wenig später.
»Seit wann liest du denn wieder hier oben?«, versuchte sie ihn gerade zu necken.
Müde lächelte Christoph seine Schwester an.
»Ach, Schwesterherz, ich will einmal keinen Streit mit Vater, verstehst du? Heute bin ich des ewigen Streitens einfach müde und morgen, wer weiß …« Er seufzte auf. »Weißt du, eigentlich müssten wir uns alle über diese Zeiten freuen. Wir sollten uns darüber freuen, dass die alten Zöpfe abgeschnitten werden und der Mensch zum wahren Menschsein heranreift.«
Marianne nickte, während sie sich auf die Lehne des alten Sessels setzte, in dem ihr Bruder saß.
»Es ist nett von dir, dass du Vater schonst«, sagte sie dann mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Christoph verzog den Mund. »Ach, ich schone vor allen Dingen mich.«
»Dann schonst du eben euch beide.«
Ein halbes Lächeln huschte über Christophs Gesicht. Dann schaute er seine Schwester prüfend an.
»Geht es dir denn gut?«
»Natürlich, warum auch nicht?«
Christoph nickte. Ja, sie hatte recht, warum fragte er so etwas? Seine ältere Schwester, die andere Seite seiner Seelenmedaille, war immer ein Glückskind gewesen. Früher war er selbst eines gewesen, doch neuerdings haderte er mit seinem Schicksal. Diese Weinlese zum Beispiel war nach seinem Geschmack schon zur längsten seines Lebens geworden, denn während er die immer gleiche Arbeit tat, änderte sich an anderen Orten und noch dazu ganz in der Nähe die ganze Welt.
Irgendwann um den 15. September herum waren Nachrichten von einem furchtbaren Gemetzel in den Pariser Gefängnissen durchgedrungen, kurz darauf hörte man von einer Niederlage der Koalitionstruppen bei einem Ort namens Valmy – Letzteres eine Nachricht, die die Eltern und Anton bedrückte, Christoph jedoch freute und Marianne offenbar gleichgültig ließ. Längst stießen die französischen Truppen unter ihrem General Adam de Custine immer weiter gegen die Festung Mainz vor.
Tante Juliane hatte in ihrem letzten Brief von mehreren Tausend Bewohnern geschrieben, die bereits aus Mainz geflüchtet waren. Der letzten Nachricht zufolge hatte nun auch der Mainzer Kurfürst seine Residenz Hals über Kopf und mitten in der
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