Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Leinenhemd spielten die Muskeln mit seinen Bewegungen. Marianne reckte sich ihm entgegen und küsste ihn. Sie küsste ihn einmal, zweimal, bis er es wagte, sie zurückzuküssen. Dann hielten sie einander auch schon wieder umschlungen, saugten zwischen immer wilderen Küssen Atem ein wie zwei, die man vor dem Ertrinken gerettet hatte.
Zuerst hatte Marianne sich gefürchtet vor dem, was, so schien es, beinahe unweigerlich auf die ersten noch so unschuldigen Küsse folgte, doch Gianluca war zärtlich gewesen wie eine warme Sommernacht und behutsam wie ein milder Abendwind. Und wenn Marianne gefürchtet hatte, sich schämen zu müssen, als sie erstmals nackt vor ihm stand, so zerstreute sich ihre Scham sofort, und sie empfand es als das Natürlichste der Welt. Auch heute spürte sie seinen Blick liebkosend auf ihren Brüsten, ihrem Bauch und ihren Schenkeln. Sie setzte sich, sprang wieder auf, als sich das Gras unangenehm in ihre Haut prägte. Sorgsam breitete Gianluca die Decke aus, die sie mitgebracht hatte, und bettete sie darauf, wie einen kostbaren Schatz.
Beim ersten Mal hatte sie ihn mit weit ausgebreiteten Armen und etwas ungelenk empfangen, doch die Liebe machte alles schön. Die Liebe machte ihr eigenes Lied aus den Dingen, schuf ihren eigenen Tanz, ihren ganz eigenen Rhythmus. In dem Moment, als sie zu Mann und Frau wurden, hatte sie sich keine Gedanken mehr um die Folgen gemacht, und sie verbiss es sich auch dieses Mal zu fragen, ob sie die Erste war, natürlich war sie das nicht, aber sie würde die Letzte sein. Nach ihr, da war sie sicher, würde es keine mehr geben.
Das schlechte Gewissen hatte sie erst danach geplagt, erst danach war ihr bewusst geworden, dass sie nun das Kostbarste hingegeben hatte, was eine Frau ihr Eigen nannte, und doch wusste sie, dass sie niemals anders hätte handeln können. Und so sagte sie auch nicht, dass es aufhören müsse. Es war zu wunderbar, um damit aufzuhören.
»Du bist schön, Marianne«, sagte Gianluca bei einem der nächsten Male, als sie danach nebeneinanderlagen, »so schön wie die Sonne.«
Gleich spürte sie seine Arme um sich.
Ich will, dass er mich nie wieder loslässt, dachte sie, nie wieder. Ich will für immer hier liegen bleiben, in seinen Armen.
»Es ist besser, wenn Helene nicht erfährt, was geschehen ist«, murmelte sie laut.
Sie musste sich zwingen, den Kopf zu heben, um Gianluca anzuschauen, spürte, wie sie unter seinem ernsten Blick errötete.
»Aber sie wird es irgendwann bemerken«, sagte er leise.
»Aber nicht jetzt«, entgegnete Marianne mit brüchiger Stimme, »nicht jetzt. Es ist noch zu früh.«
Er nickte, und Marianne hob ihm das Gesicht für den nächsten Kuss entgegen.
Jetzt, wo die Gegenwart sie wiederhatte, schmeckte das Gewissen wie so oft bitter. Sie hatte ihre Unschuld verloren, hatte sich den Eltern widersetzt, sich einem Mann hingegeben, der nicht ihr Ehemann war und nicht sein konnte. Und der noch dazu der Mann war, den ihre Schwester liebte. Marianne unterdrückte einen Seufzer, schluckte heftig an den Tränen, die plötzlich ihre Kehle hinaufdrängen wollten. Noch nie hatte sie sich so glücklich und gleichzeitig so zerrissen gefühlt.
Doch es gab auch ruhige Momente ohne böse Gedanken. Dann, wenn Gianluca ihr von seiner Heimat erzählte, von einem Ort namens Levanto, von einer steilen Küste und Dörfern, die wie Schwalbennester am Felsen klebten. Er erzählte ihr auch von einer kleinen Kirche über dem Meer, wo er vor seiner Abreise in den Norden Abschied genommen hatte, ungewiss darüber, ob er je zurückkehren konnte, und sie wünschte sich sehr, diese kleine Kapelle einmal zu sehen. Und er erzählte ihr vom Meer, wieder und wieder vom Meer.
Der Gedanke daran faszinierte Marianne, und manchmal wünschte sie sich sehr, eines Tages als seine Frau mit ihm in seine Heimat zu reisen, denn in seinen Armen war sie doch zur Frau geworden. Und dann wieder dachte sie, dass es besser wäre, alles zu beenden. Weil sie einfach schreckliche Angst vor dem hatte, was aus dieser Liebe noch erwachsen konnte. Weil sie ihre Unschuld beschmutzt hatte. Weil sie nicht mehr vor ihre Eltern treten konnte, ohne zu lügen.
Für den nächsten Sonntag hatte der Vater nun endlich das Fest angesetzt, bei der die neue Statue an den Platz der alten gesetzt werden sollte.
»Sehe ich dich dort?«, fragte Marianne, halb begehrlich, halb ängstlich, weil sie ihre Liebe würde verbergen müssen und nie sicher war, ob ihr das gelingen
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