Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Geruch nach Schweiß nicht zu tief einzuatmen.
Manchmal, wenn sie an der Stelle vorbeitanzten, an der sie Christoph, Anton und Helene zurückgelassen hatte, warf sie den dreien einen Blick zu. Christoph schenkte ihrem Tanz kaum Beachtung und hatte sich stattdessen in ein Gespräch mit den Kumpanen des Rothaarigen vertieft. Anton schaute düster drein. Auch Helene ließ sie nicht aus dem Blick. Marianne warf sich in die nächste Umdrehung. Ach Gott, sagte der Teil von ihr, der sich niemals Gedanken um irgendetwas machte. Sie würde später mit den beiden reden. Sie waren doch alle jung. Sie sollten das Leben alle genießen. Was war so falsch daran?
Einen Moment lang betrachtete Helene ihre Fußspitzen, bevor ihre Augen wieder Marianne suchten, als sei die Schwester der Magnet und sie das Spänchen Eisen, das von ihm angezogen wurde. Marianne trug heute ein Kleid nach der neuesten Mode, das sie erst nach einem kurzen Kampf mit der Mutter hatte tragen dürfen, denn Emmeline hatte es als viel zu offenherzig empfunden. Zum wiederholten Mal dachte Helene, dass es ein wenig wie ein Unterkleid aussähe – à la chemise , hatte Marianne es auch genannt –, und zweifelsohne war es das, was die Mutter störte.
Und warum freue ich mich nicht? Helene atmete tief durch. Doch, ja, sie schämte sich dieser wirren, bitteren Gedanken, die seit Tagen durch ihr Innerstes tobten, sie schämte sich, weil sie ihrer Schwester offenbar nichts Gutes gönnen konnte, schämte sich, weil doch alle um sie herum so fröhlich waren.
Unwillkürlich fiel ihr Blick auf Anton.
Auch er ist nicht glücklich, fuhr es durch sie hindurch, auch er nicht. So sehr hatte er sich bemüht, die Schwester auf dem Weg mit Scherzen zu erfreuen, und jetzt tanzte Marianne mit dem erstbesten Fremden.
Nein, das war durchaus nicht recht. Es war nicht recht von Marianne, Anton so zappeln zu lassen. Alle waren sich doch einig, dass es sich bei dem Sohn der Weidmanns um eine gute Partie handelte, der Schwester aber schien das gleichgültig zu sein. Aber Marianne hatte ja ohnehin immer bekommen und getan, was sie wollte.
Vielleicht verhält sie sich deshalb, als stehe ihr alles zu, überlegte Helene. Ein kleiner Knuff in ihre Seite riss sie zurück in die Gegenwart.
»Lele, was guckst du denn schon wieder so ernst?«, war Christophs Stimme zu hören. Sie zuckte die Achseln. Sie konnte es selbst nicht sagen. Mit einem Mal fühlte sie sich wie ein kleines Kind, das die ersehnte Überraschung nicht bekam, dabei aber gar nicht wusste, was es sich eigentlich wünschte.
»Ach, es ist nichts.« Kurz entschlossen hakte sie sich bei ihrem Bruder unter. Etwas in seiner Rocktasche knisterte unter ihren Berührungen. Sicher wieder eines der welschen Flugblätter. »Ich habe nur nachgedacht.«
»Worüber denn?«
»Ich weiß nicht. Es ist auch unwichtig, es würde dich nicht interessieren.«
»Woher weißt du das denn?« Christoph zog Helene zu sich herum und schaute sie prüfend an.
Weil euch nie etwas interessiert, was ich tue, dachte sie bei sich, weil ich für dich doch ohnehin nur ein kleines Mädchen bin.
»Und?«, beharrte er.
Helene zuckte die Achseln, während sie wieder nach Marianne Ausschau hielt. Marianne war immer schön gewesen. Noch heute sprachen die Älteren von dem hübschen Säugling, der sie gewesen war, so schön wie kein anderer, mit ihren großen Augen, den geschwungenen Wimpern und den rosigen Lippen. Sie war auch ein schönes Kind gewesen, war herangewachsen und schön geblieben. Wo Christoph im Jugendalter plötzlich hager geworden war, die Glieder knochig und in keiner Proportion zum Rest des Körpers oder auch nur zueinander, und Helene über einige Jahre hinweg so dick gewesen war, dass die Augen in ihrem bleichen, schwammigen Gesicht ausgesehen hatten wie Rosinen in einem Hefezopf, hatten Mariannes Augen stets unverändert gestrahlt, braun mit etwas Grün, wie ein schöner, warmer Herbst. Helene war sich sicher, dass Marianne jeden Mann würde haben können.
Vielleicht war sie deshalb so uninteressiert?
Sie entschloss sich, das Thema zu wechseln, machte eine Bewegung mit der Hand: »Sag mir, warum sind diese Männer so froh? Es ist Krieg, sie sind weit weg von zu Hause …«
Christoph warf einen kurzen Blick auf die Tanzenden und schaute dann wieder seine Schwester an.
»Weil sie für etwas kämpfen, für das es sich zu kämpfen lohnt, Kleines. Sie kämpfen für die Freiheit, für Gleichheit und Brüderlichkeit.«
Helene nickte langsam.
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