Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
aus einem helleren Stein gefertigt, das Gesicht und die Körperformen der Maria waren zarter herausgearbeitet. Das konnte man sogar auf die Entfernung sehen. Offenbar sollte Jonas Weissgerber sie an Ort und Stelle bringen, denn er hatte die Leiter schon einige Sprossen hoch erklommen.
»Ich hätte Gianluca gerne bei der Arbeit beobachtet«, sagte Helene unvermittelt.
»Ach, tatsächlich«, erwiderte Marianne leichthin, »das ist sicherlich sehr langweilig.«
»Ich weiß nicht.« Helene zuckte die Achseln. Als der Vater Weissgerber die Figur reichte, machte sie Anstalten, näher heranzurücken, doch Marianne stützte sich auf einmal schwer auf sie.
»Oh, mir ist schwindlig«, hörte Helene die Stimme der Älteren, während die Menge ins Gebet des Priesters einfiel.
»Ist es wirklich so warm, wie es mir vorkommt?«, hauchte Marianne.
»Eigentlich nicht.« Helene schaute ihre Schwester an. »Vielleicht hättest du nicht so viel tanzen sollen. Soll ich dir etwas zu trinken holen?«
»Ja, bitte.« Marianne sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.
Als Helene mit einem Becher gewässerten Weins zurückkehrte, standen Christoph und Anton schon an Mariannes Seite und lachten über irgendetwas, was die ältere Schwester gesagt hatte. Helene reichte ihr das Getränk und sah dann zur Tür, doch der Vater hatte die Leiter schon wieder wegbringen lassen. Gerade klopfte er Gianluca auf die Schulter. Der Italiener hatte mittlerweile durch seinen Fleiß und seine ordentliche Arbeit das väterliche Vertrauen gewonnen. Der Vater hatte sogar schon gemeinsam eine Pfeife mit ihm geschmaucht und sich vom Weinbau in Italien berichten lassen.
»Schade, ich hätte sie mir gerne einmal aus der Nähe angesehen«, sagte Helene.
»Wen?« Marianne sah auf.
»Die Statue natürlich.«
»Ach Gott, es ist doch nur eine dumme Statue. Ein Ding aus Stein.«
Helene zuckte die Achseln. »Ja, ich weiß.«
Sie wollte noch etwas sagen, doch im nächsten Moment war schneller Hufschlag zu hören, und dann sprengte auch schon ein berittener Bote auf den Hof. Christoph und Anton gehörten zu den Ersten, die auf den Mann zueilten. Helene und Marianne schlossen sich ihnen an.
Sowohl Pferd als auch Reiter waren vollkommen verschwitzt und von Staub und Lehm bedeckt. Schaum stand dem Tier vor dem Maul.
»Knechte«, brüllte der Vater.
Als ob er sich nicht mehr halten könne, war der Bote vom Pferderücken gerutscht und stand nun auf wackligen Beinen inmitten einer Traube Neugieriger. Das älteste der Weissgerber-Mädchen trat an seine Seite und bot ihm einen großen Krug Wein an. Der Mann trank gierig, dann wandte er sich an den Vater.
»Hubertus Brand, Euer Schwager, schickt mich, Meister Valentin. Er befürchtet, dass Mainz in kurzer Zeit von den Franzosen eingenommen wird.«
Ein beunruhigtes Raunen ging durch die Menge. Helene warf ihrem Bruder einen Blick zu, doch in dessen Gesichtszügen ließ sich nichts lesen. Wie aus weiter Ferne hörte sie, wie der Vater die Feier mit ernster Stimme für beendet erklärte.
Sie sollte für lange Zeit die letzte sein, die auf dem Hof der Steins stattfand. Wenige Tage nachdem Mainz kapituliert hatte, besetzten die Franzosen Kreuznach.
S iebtes Kapitel
Kreuznach, 23. Oktober 1792
Die Franzosen waren angekommen. Sie hatten eben das Tor passiert und marschierten nun die Straße entlang. Ihre Füße trampelten im Gleichschritt, während ihre Blicke über die Kreuznacher Häuserfassaden nach oben in den Herbsthimmel entkamen. Hier und da löste sich eine Schrittfolge aus dem Gleichmaß heraus und trommelte für kurze Zeit einen anderen Rhythmus, mal war es ein schnellerer, mal ein langsamerer. Wie die Festung Mainz war auch Kreuznach rasch besiegt worden, und die Soldaten wirkten erleichtert. Marianne, die den Marsch gemeinsam mit ihren Geschwistern und Anton vom Straßenrand aus beobachtete, stellte fest, dass einige von ihnen abgerissen aussahen, die meisten schienen bei aller Fröhlichkeit müde zu sein. Viele waren jung, halbe Kinder darunter, so kam es ihr jedenfalls vor, und alle wirkten sie stolz.
Als die Soldaten endlich an ihnen vorübergezogen waren, schlossen die jungen Leute mit den anderen Neugierigen auf. Die Eltern hatten sich schon lange unter den Schaulustigen verloren. Sie waren noch nicht auf dem gro ßen Platz angekommen, als sie bereits die Musik hörten. Flötengetriller mischte sich mit Trommelwirbeln, fremde Melodien tränkten die Luft und ließen die Füße unwillkürlich hüpfen und
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