Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
zucken.
Sie wollen tanzen, begriff Marianne, sie wollen vergessen, was sie gesehen haben, und feiern. Sie wollen vergessen, dass sie Freunde haben sterben sehen und dass ihre Liebsten nicht bei ihnen sind. Sie wollen vergessen, dass sie Angst um ihre Kinder haben, um ihre Eltern und um die, die ihnen nahe sind. Niemand musste ihr das sagen, sie wusste es einfach, und für diesen Moment spürte sie eine erste Gemeinsamkeit mit diesen Fremden, die die Stadt besetzt hatten.
Unwillkürlich musste sie an Gianluca denken. Manchmal meinte sie, seine Küsse zu spüren, wenn sie nur an ihn dachte. Manchmal schämte sie sich dessen, was sie getan hatte, so sehr, dass sie befürchtete, man könne es ihr ansehen. In jedem Fall kam auch er von weither. Sie fragte sich, wie es sein mochte, alleine in der Fremde zu sein. Er hatte ihr noch ein wenig mehr von zu Hause erzählt, vom Meer, von den Bergen, vom Geruch der Kräuter und Blumen, von einer Sonne, die viel heißer schien als hier bei ihnen. Für einen kurzen Moment schaute sie zu Helene hin. Die kleine Schwester blickte düster drein. Sie hatte heute zu Hause bleiben wollen, doch die Mutter hatte es ihr nicht erlaubt.
»Du wirst mit deinen Geschwistern gehen! Niemand von uns bleibt zu solchen Zeiten alleine.«
Ich muss es ihr sagen, schoss es Marianne nicht zum ersten Mal durch den Kopf, ich muss es ihr sagen – oder ich muss das, was zwischen mir und Gianluca ist, beenden. Heute noch.
In nächster Nähe war ein Jauchzer zu hören. Die ersten Soldaten forderten Frauen aus der Zuschauermenge auf. Gleich darauf drehten sich Paare in improvisierten Tänzen im Kreis, hüpften und sprangen, entkamen einander spielerisch und kehrten zueinander zurück. Jemand lachte. Ein anderer schloss sich an. Mariannes Blick fiel auf eine Gruppe junger Männer, auch sie Soldaten, die immer wieder zu ihnen herübersahen, während sie sich gegenseitig näher und näher zu der schönen Frau hin schoben. Als sie nur noch wenige Schritte trennten, wechselte Marianne einen belustigten Blick mit Christoph. Helene stand derweil stumm und nachdenklich dreinblickend an Antons Seite.
»Darf ich, Brüderchen?«, hauchte Marianne Christoph zu.
»Wer bin ich, dir Ketten anzulegen?«, entgegnete der lässig.
Er sieht glücklich aus, dachte Marianne unwillkürlich, ich habe ihn lange nicht mehr so glücklich gesehen. Dies hier musste die Erfüllung seiner Träume sein, oder zumindest etwas, was nahe daran herankam. Und was wünsche ich mir eigentlich, fragte sie sich, während im gleichen Moment ein Rothaariger aus der Gruppe einen Stoß bekam und fast in Mariannes Armen landete.
»Danser?«, fragte er. »Danser?«
Sie nickte. Tanzen, das Wort kannte sie immerhin. Gut, dass Mutter auf dem Französischunterricht bestanden hatte. So verstand Marianne wenigstens, auch wenn sie nichts zu antworten wusste. Entschlossen hatte der Franzose sie bald tiefer in den Strudel der Feiernden hineingezogen. Als er sie nun breit anlachte, bemerkte sie, dass ihm oben einige Zähne fehlten.
»Schöne Frau«, sagte er, »tu es une belle femme.« Er nickte mit dem Kopf zu Christoph hin. » Ton mari? Deine Mann?«
Marianne schüttelte den Kopf. »Bruder. Mon frère. «
Der Rothaarige nickte. »Passt auf dir auf?«
Marianne lachte. »Ja, sehr.«
»Comment-tu t’appelles?«, fragte der Rothaarige.
»Marianne.«
»Tu es belle, Marianne, viens avec moi.«
Marianne warf den Kopf in den Nacken und lachte noch lauter, auch wenn es ihr schwerfiel. Ob der Franzose ihr ansah, dass sie ein schlechtes Mädchen war, eine, die leicht zu haben war?
»Das wäre nicht recht«, rief sie aus, »was soll mein Bruder sagen?«
»Er nicht merkt.« Der Rothaarige grinste sie an, mutiger nun, berauscht vom Tanzen, von der Musik, vom Lachen. »Möchtest du Wein, ma belle Marianne? Ich habe sehr gute Wein.«
Marianne wehrte ab. Sie war so schon trunken genug, trunken von der Freiheit, die sie spürte, von der Bewunderung in den Augen des Rothaarigen und vom Tanzen.
Ich habe so schon zu viel gewagt. Gianlucas Liebe hat mich trunken gemacht, aber im Leben gibt es kein Zurück, nur ein Vorwärts …
Zur Musik wirbelten sie nach links und nach rechts und einmal rundherum. Der Rothaarige konnte nicht tanzen, und doch tat er es mit Wonne. Seine Füße flogen. Er hob Marianne hoch und genoss wohl das Gefühl, sie an sich zu drücken. Bestimmt hat er lange keine Frau mehr in den Armen gehalten, dachte sie, während sie sich bemühte, den
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