Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
die Außenwerke, die Bürger an die Tore und auf die Wälle; die Akademiker erboten sich freiwillig zum Jägerkorps, doch spielten sie eine eher lächerliche Komödie und bezogen alle Abende den sehr gefährlichen Posten im Bierhaus Zu den drei Mohren auf der Augustinergasse.
So fing es an, und bald machte die Nachricht die Runde, die Franken hätten Worms besetzt, was neuerlich für viel Unruhe sorgte. Die Franzosen blieben ungefähr sechs Tage dort und zogen sich dann zurück. Am selben Abend übrigens, als die sichere Nachricht vom Rückzug kam, verließen die Akademiker ihr Bierhaus und besetzten die Albaner Schanz. Ich schrieb ja, es war eine eher lächerliche Komödie. Auch einige, die schon geflüchtet waren und die man deswegen die Weilburger nannte – nach der Weilburgischen Armee, die hier in Besatzung gelegen hatte und bei der Nachricht vom Anmarsch des Feindes weggelaufen war –, kehrten nun ebenfalls zurück.
Man fühlte sich wieder sicher, und die Regierung ließ sogar verschiedene Personen, die ihr als Freunde der Franken angegeben wurden, als Spione verhaften und sandte Kuriere aus, um Truppen zu fordern. Täglich hieß es nun, die kaiserliche Armee werde kommen, und viele glaubten gar, diese wolle ihr Winterquartier in unserem guten Mainz beziehen. Es war ein ständiges Hin und Her, und lange Zeit war man nicht sicher, was werden würde.
Am 18. Oktober abends kam dann plötzlich die Nachricht, die Franzosen seien in Oppenheim. In dieser Nacht konnte unser ganzer Haushalt nicht schlafen. Hubertus und ich hingen an den Fenstern und harrten der Dinge, die da kommen wollten, und auch die Knechte und Mägde fanden nicht ins Bett. Überall im Hause schnatterte und brummte es. In der Stadt war es auch außerordentlich lebhaft, zu hören war jedoch nichts Entscheidendes. Irgendwann dämmerte ich ein. Und wurde um halb acht von Alarmschüssen geweckt!
Schleunig lief nun alles auf die Wälle, und da sahen wir die Franzosen auch schon von der Schlossbatterie am Heinigen seinem Häuschen den Rech herunterkommen; Kavallerie, wie Hubertus erkannte, wovon der Vortrab am Mägleins Garten auf ein Piquet österreichischer Husaren stieß. Nun ging ein allgemeines Feuern der Unsrigen auf unseren Wällen und Schanzen an, welches aber leider gänzlich ohne Wirkung war.
Im Verlaufe des Tages führte Hubertus mich auf die Türme, und wir schauten mit Ferngläsern nach den heranrückenden Feinden. Erst sah man aber nur lauter Kavallerie, von Hechtsheim gegen Marienborn zu. Bald schon jedoch erstreckte sich ein riesiges Lager von Mombach über Gonsenheim, Marienborn, Niederolm, Hechtsheim bis Weisenau.
An jenem Tag, erfuhren wir später, fingen auch die Verhandlungen an, und am nächsten, dem Sonntag, wurde die Kapitulation besiegelt.
Einige junge Burschen, Freunde der Franken, pflanzten sogleich die Kokarden auf und marschierten zu den Toren hinaus, um die Franken zu besuchen, worauf Hubertus ihnen was auf die Ohren geben wollte, aber ich konnte ihn doch überreden, still nach Hause zu gehen. (Du kennst ja Deinen Schwager, lieber Valentin, ich muss nicht mehr dazu schreiben.)
Denselben Abend noch wurden die Tore von den Franzosen besetzt. Mainz war eingenommen.
So ist unsere liebe Stadt also besetzt. Am selben Tage übrigens, als die Franken nach Kreuznach kamen, wie ich hörte, wurde hier in Mainz die Gründungsversammlung für die »Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit« abgehalten, anders gesagt: für den Klub der Jakobiner. Dort erklärt man dem Publikum die Prinzipien der Demokratie, ruft zur Revolution und zum Anschluss an Frankreich auf, wovor Gott uns bewahren möge – wenngleich ich die französische Mode doch immer gerne mochte. Überhaupt wird nun überall fleißig Propaganda für die Revolution betrieben, in der Presse und was weiß ich noch wo, sodass ich mich ohnehin schon fühle, als lebte ich mitten in Paris. Blau-weiß-rote Kokarden konnte man ja schon lange auf der Schustergasse kaufen.
Ich hoffe, dass Euch mein Bericht alle wohlauf findet. Uns geht es, gottlob, bisher gut.
Eure Tante Juliane
A chtes Kapitel
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