Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Ja, sie kämpften für eine neue Welt, das war es wohl, was sie glücklich machte. Interessant jedenfalls, dass eine neue Welt so glücklich machen konnte. Sie wagte es nicht, Christoph zu sagen, dass sie der Gedanke ängstigte. Was sollte das denn für eine neue Welt sein? Wie sollte sie aussehen, und welchen Platz würde sie, Helene, darin haben? Sie wollte noch etwas sagen, doch hatte sie mit dem nächsten Atemzug schon vergessen, was es war – sah nur noch Gianluca aus der Menge treten und sich suchend umblicken, bis er als Erste Marianne bemerkte. Die späte Sonne ließ sein Lockenhaar glänzen wie Rabenfedern. Er hob die Hand. Marianne nickte ihm hoheitsvoll zu. Auf einen Schlag kehrten alle Geräusche zurück, und Helene bemerkte, dass ihr Bruder immer noch mit ihr sprach.
»Was ist denn, du bist auf einmal so blass?«
Geh mit mir ins Land, in dem die Zitronen blühen …
»Helene?«
»Entschuldige, ich war schon wieder in Gedanken.«
»In Gedanken? Du sahst aus, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen.«
Helene senkte den Blick. »Vielleicht fühle ich mich nicht gut, vielleicht sollte ich nach Hause gehen …«
Behutsam legte ihr Christoph einen Arm um die Schultern.
»Vielleicht sollte ich dich nach Hause bringen? Komm, ich hole den Wagen.«
Helene unterdrückte einen kleinen Seufzer und nickte. Sie hatte ihren Bruder lange nicht mehr so fürsorglich erlebt, und doch konnte sie sich nicht aus vollem Herzen freuen. Es war dieses Gefühl in ihr, dieses Gefühl, das ihr sagte, dass da etwas war, was ihr nicht gefallen würde.
»Wie konntest du das zulassen?« Anton stemmte die Hände in die Seiten.
»Was denn?«, antwortete Christoph gereizt. Nachdem er die kleine Schwester nach Hause gebracht hatte, war er nicht noch einmal zurückgekehrt. Er hatte versucht, mit Helene zu reden, doch die hatte sich wortkarg gegeben und war bald zu Bett gegangen. Irgendetwas beschäftigte sie, doch sie wollte nicht damit herausrücken, was es war. Alleine hatte er sich schließlich in die gute Stube zurückgezogen, Wein getrunken und die neuesten Flugblätter studiert. Etwas später waren Anton, Marianne und die Eltern mit dem Karren der Weidmanns nach Bonnheim zurückgekehrt. Die Eltern und auch Marianne hatten sich bald zurückgezogen.
Anton war geblieben. Sie hatten noch etwas Wein getrunken, viel zu viel mittlerweile. Christophs Schädel brummte, und doch spürte er bereits eine unangenehme Ernüchterung, während er dem Freund in der guten Stube der Steins gegenüberstand und sie beide versuchten, ihre Stimmen zu senken.
»Sag schon, warum hast du deine Schwester mit dem verdammten Franzmann tanzen lassen? Sie hat sich zum Gespött der Leute gemacht.«
»Du kennst meine Meinung zu den Franken. Also zähme deine Zunge, Anton.«
Doch Anton war es offenbar unmöglich zu schweigen, als habe sich etwas in ihm aufgestaut und breche sich jetzt Bahn.
»Wie eine Hure!«
»Anton, das ist nicht dein Ernst.«
Christoph packte den Freund bei den Schultern.
»Nein«, entgegnete der schwach und ließ sich unvermittelt auf den nächsten Stuhl fallen. Was war nur in ihn gefahren? Was erlaubte er sich hier, um Himmels willen? Vor seinem ältesten und besten Freund … Verdammt … Verdammt … Verdammt noch mal.
»Verzeih mir«, stotterte er.
»Du müsstest dich für diesen schmutzigen Gedanken eigentlich bei meiner Schwester entschuldigen.«
Anton ließ den Kopf hängen. Mit einem tiefen Seufzer lehnte Christoph sich gegen das Wandbord und fixierte die daraufstehende Uhr. Es war spät. Er sollte nicht zu streng sein. Sie waren beide übermüdet.
Dabei war es solch ein schönes Fest gewesen, der Beginn einer neuen Zeit.
Christoph versteckte ein unwillkürliches Lächeln hinter einem Gähnen. Er hatte seine schöne Schwester lange nicht mehr so glücklich gesehen. Und auch er war glück lich. Er war glücklich, und er hasste es, dass Anton ihm die Stimmung verdarb. Warum konnte es nicht sein wie früher, als sie beide unzertrennlich gewesen waren, als einer für den anderen die Hand ins Feuer gelegt hätte?
»Aber ich verstehe euch trotzdem nicht«, war nun wieder Antons Stimme zu hören. »Das sind alles wilde Bestien. Du weißt, was im September in den Gefängnissen geschehen ist. Sie haben die Gefangenen massakriert. Sie haben sie einfach ermordet. Abgeschlachtet, grundlos und ohne Prozess. Blutige Bestien sind das, nicht mehr!«
Christoph runzelte die Stirn, hatte die Finger nach dem Glas ausgestreckt, das
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