Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
das Zifferblatt schützte, als könne er die Zeiger dahinter festhalten.
»Und die Könige begehen ihre Verbrechen seit Jahrhunderten, so ist es doch. Lass ihnen Zeit, Anton, wir wissen nicht, was damals wirklich geschehen ist«, entgegnete er leise und kämpfte gegen die Unsicherheit an, die seinen Worten anhing.
»Natürlich wissen wir das. Es ist das geschehen, was geschehen muss, wenn der Pöbel die Macht ergreift. Welsches Mörderpack.«
Reg dich nicht auf, dachte Christoph, tu es ihm nicht gleich. Worüber stritten sie denn überhaupt? Wie sollte die Welt besser werden, wenn es noch nicht einmal ihnen gelang, ruhig über alles zu sprechen? Sie waren Freunde und geiferten sich doch an wie tolle Hunde.
Er atmete tief durch, bevor er sich umdrehte. Im flackernden Schein der Kerzen sah Antons Gesicht gelblich aus. Christoph trat auf den Freund zu, legte ihm den Arm um die knochigen Schultern.
»Lass uns mit dem Streit aufhören. Wir sind doch die Alten, Anton. Wir sind Freunde. Wir sind gemeinsam schwimmen gegangen. Wir haben Streiche ausgeheckt. Lass doch diese Sache nicht zwischen uns stehen.«
Er spürte, wie sich Antons Schultern unter seiner Berührung versteiften, und versuchte doch, ihm ein gewinnendes Lächeln zu schenken. Der Freund biss die Zähne aufeinander, dass es knirschte, doch er antwortete nicht. Etwas war zerrissen zwischen ihnen, und Christoph ahnte zum ersten Mal, dass sich dieser Riss nicht mehr so leicht würde schließen lassen.
In Bonnheim, wie auch in vielen anderen Dörfern, griff bald die französische Mode um sich, wie es der Vater nannte, und jeder Dummerjan meinte, einen Klub gründen zu müssen oder zumindest einem beizutreten. Manchmal erschien es Marianne, als wettere Valentin besonders lautstark, wenn sich Christoph in der Nähe befand. Heute hatte sie sich mit ihrem Bruder zu einem Spaziergang getroffen, etwas, was sie früher weit häufiger getan hatten als in den letzten Monaten.
»Es ist nicht auszuhalten mit dem Alten«, schimpfte Chris toph gerade und schlug den Stecken in seiner Hand mit Nachdruck durch die Wiese, sodass Gras und feuchte Erdklumpen nur so flogen. »In vielen Klubs sitzen doch ohnehin nur die, die schon immer alles hatten. Der reiche Bauer, der Schultheiß, die Gerichtsdiener. Der Herr Lehrer. Was soll sich da schon ändern?«
Erneut sauste der Stecken über die Grasspitzen hinweg.
»Ach, Christoph«, bat Marianne. »Nun reg dich nicht auf. Sei geduldig, gib uns allen etwas Zeit.«
»Bis wann denn? Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag? Ach Gott, Marianne«, unvermittelt blieb er stehen und sah seine Schwester an, »jetzt muss etwas geschehen, sonst wird sich nie etwas ändern. Nie!« Er schüttelte den Kopf. »Und ich dachte immer, wenigstens du verstehst mich.«
»Aber ich verstehe dich doch.«
Marianne fasste nach seinem Arm und streichelte sanft darüber. Er sah ihr prüfend in die Augen.
»Dann musst du doch einsehen, dass es so nicht weitergehen kann.«
»Natürlich, ich verstehe das alles nur zu gut.« Marianne griff nach dem Stecken, der schon wieder über die Grasspitzen pfeifen wollte. »Ich zum Beispiel würde gerne selbst über mein Leben entscheiden. Ich würde gerne heiraten, wen ich liebe, und ich würde gerne einen Beruf erlernen und …«
Christoph lachte laut auf. Marianne schaute ihn zuerst verwirrt, dann verletzt an.
»Was …? Was habe ich denn gesagt?«
»Nichts. Einen Beruf lernen. Du? Und welcher sollte das sein? Willst du dir als Magd die zarten Finger schmutzig machen? Willst du fremder Leute Wäsche waschen? Und dann noch den heiraten, den du liebst …« Christoph lachte wieder. »Sag, wen liebst du denn?«
»Das … Das …« Marianne bückte sich unwillkürlich nach einem Stein und schleuderte ihn davon. »Das war doch nur so dahingesagt.«
J uliane Brand an Familie Stein
Mainz, Ende Oktober 1792
Nun, meine lieben Verwandten, komme ich endlich dazu, Euch zu schreiben, und ich will Euch getreulich berichten, was sich in den letzten Wochen hier zugetragen hat. Von der Flucht unseres Kurfürsten habt Ihr ja sicher allenthalben reden gehört.
Danach trat die Statthalterschaft die Regierung an – unser Statthalter von Fechenbach rief uns zum Durchhalten auf, während der Vormarsch der Feinde in der Lesegesellschaft von vielen bejubelt wurde, wie ich sagen hörte – und forderte von der Bürgerschaft, die Stadt zu verteidigen. Natürlich erklärte sich auch mein Hubertus gerne bereit dazu. Das Militär kam also auf
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