Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Gesicht geschrieben. Die Hände in die Seiten gestemmt, das Kinn vorgestreckt, schaute sie ihren Bruder herausfordernd an. Der legte gerade ein zweites Hemd in seine Tasche und wich ihrem vorwurfsvollen Blick aus. Helene wartete stumm ab.
Auch wenn ihre Geschwister seelenverwandt waren, Streit hatte es oft zwischen ihnen gegeben – vielleicht gerade deswegen. Schließlich wusste jeder der beiden, womit er den anderen am leichtesten reizen konnte.
»Ja, ich fahre nach Mainz«, sagte Christoph jetzt langsam und sehr bedächtig und ließ die Tasche zuschnappen. »Auf Vaters Wunsch hin übrigens.« Er hob den Kopf und drehte das Gesicht zu Marianne hin.
»Vaters Wunsch?«, parierte die höhnisch. »Dass ich nicht lache. Er hätte nichts Besseres von dir verlangen können, oder irre ich mich?«
Marianne schüttelte den Kopf. Lange war sie nicht mehr so wütend gewesen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Gerade in den letzten Tagen hatte sie sich häufiger Christophs Unterstützung gewünscht, doch der bemerkte offenbar nichts von ihren Gewissensqualen, seit die neuen Zeiten angebrochen waren. Heute Morgen erst hatte sie schaudernd festgestellt, dass sie sich endlich eingestehen musste, dass sie schon seit einigen Tagen überfällig war. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihrem Herzen einfach so unbedacht nachzugeben? Wie hatte sie sich Gianlucas Küssen hingeben können, seiner Stimme, seinen Berührungen … Und wie konnte Christoph, ihr geliebter und einziger Bruder, ihre Pein nicht erkennen und sie so einfach mir nichts, dir nichts verlassen wollen?
»Wir heiraten«, hatte Gianluca mehr als einmal zu ihr gesagt, »wir heiraten …«
O Gott, was wird Vater sagen? Und Helene? Sie wird mir nie verzeihen, niemals. Ich bin überfällig. Sie hatte es so lange verdrängt, aber am heutigen Morgen war ihr dies nicht gelungen. Aber es war noch früh, es war noch sehr früh. Sie konnte noch Hoffnung haben, sie konnte sich irren, aber sie wollte keinesfalls alleine in Bonnheim bleiben. Nicht ohne Christoph.
Die Vorstellung, dass ihr Bruder nach Mainz reiste und Abstand gewann von allem hier, ließ neuerlich Wut in Marianne hochkochen. Unvermittelt packte sie den Bruder bei den Oberarmen und schüttelte ihn. Sanft löste der ihre Finger.
»Mimi, was soll denn deine kleine Schwester von dir denken?«
Marianne wechselte einen knappen Blick mit der Jüngeren, musste, ihr völlig unerklärlich, ein paar Tränen herunterschlucken. Seit ein paar Tagen schon hatte sie ungewöhnlich nahe am Wasser gebaut. Endlich atmete sie tief durch, dann ließ sie sich auf ihr Bett zurücksinken.
»Sie soll sich denken, dass ich nicht alles mit mir machen lasse.« Düster musterte Marianne ihren Bruder. »Nun sag schon, es war auch dein Wunsch, oder etwa nicht? Hast du es ihm vielleicht sogar angeboten?«
Ein unwillentliches leichtes Lächeln ließ Christophs Mundwinkel nach oben zucken. »Nein, es war seine Idee.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Der junge Mann zuckte die Achseln.
»Komm, Schwesterchen, es sind nur ein paar Tage, dann bin ich auch schon zurück.«
Wieder atmete Marianne tief durch. »Versprichst du es mir?«
»Ich verspreche es.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust, ließ dann wie selbstvergessen ihre Hände über die neben ihr liegende Stickerei streifen, die sie auf Geheiß der Mutter heute Morgen zur Hand genommen hatte. Im selben Moment hob auch die Schwester den Blick von der eigenen Stickarbeit.
Marianne denkt nicht daran, ihre Arbeit zu erfüllen, fuhr es ihr durch den Kopf, sie setzt sich über alles hinweg. Das hat sie schon immer getan.
Mit einem Mal erschien Marianne Helene nicht mehr nur schön, nicht mehr nur bewundernswert. Marianne dachte stets nur an sich und an niemanden sonst. War es nicht so?
Christoph ließ die Schlösser seiner Tasche noch einmal auf- und zuschnappen.
»Und natürlich fahre ich gerne«, bemerkte er dann, »das will ich gar nicht verleugnen. In Mainz ändert sich unsere Welt, wer will da nicht dabei sein?«
Marianne schob schmollend die Unterlippe vor.
»Ich mag das nicht, wenn du mir nur so nebenher antwortest.«
»Aber das tue ich doch gar nicht.«
»Doch.«
Sie sah ihn von unten herauf an. Mit einem übertriebenen Seufzer ließ sich Christoph vor ihr auf die Knie nieder. »Ich verspreche es dir, Marianne. Ich bin bald zurück.«
Einen Tag später brach Christoph frühmorgens auf, um auf einem Kahn über die Nahe nach Bingen und von dort aus weiter nach Mainz zu
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