Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
wieder gute Ordnung herrschen. Beherzter nahm man auch die Planung einer Verlobung zwischen Marianne und Anton wieder auf, als sei man sich dessen gewiss, dass der ganze Spuk bald ein Ende haben würde.
An einem noch recht kühlen Märzmorgen gelang es Gianluca wieder einmal, Marianne alleine bei ihrem Spaziergang im Garten abzufangen. Seit Marianne wieder in Bonnheim war, sahen sie sich jedoch immer nur kurz. Für Gespräche, Liebkosungen gar, blieb kaum Zeit.
»Wann wirst du es ihnen sagen?«, fragte er. »Wann, meine Liebste?«
Marianne zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht«, murmelte sie. Ich habe zu viel Angst.
E lftes Kapitel
Christoph hatte seine Tante Juliane niemals weinen sehen, und es schnürte ihm die Kehle zu, sie nun so verzweifelt zu erleben. Die Bestätigung der Ausweisungsorder war am Morgen gekommen, wenig später brach die alte Dame zusammen.
»Sie wollen uns tatsächlich ausweisen, Christoph, wir sind alte Leute, wir tun doch niemandem mehr etwas zuleide.«
Christoph öffnete den Mund, doch er brachte kein Wort heraus. Ausweisung – Exportation –, er wusste, wovon sie sprach. Es gab nichts zu beschönigen. Dabei hatte er die Sache doch immer für richtig gehalten. Aber Juliane und Hubertus, diese beiden alten Leute … Wem sollten sie schon gefährlich werden? Zudem hatte Hubertus vor Kurzem erst einen leichten Schlaganfall erlitten und erholte sich nur langsam.
Das ist falsch, fuhr es Christoph nicht zum ersten Mal durch den Kopf, es ist falsch, so zu handeln. Wie viel Bitterkeit mochte entstehen, wenn man Menschen gewaltsam von ihren Familien trennte, wenn man ihnen den Besitz nahm und die gewohnte Umwelt? Wie viel Hass mochte sich bei jenen aufbauen, die sich dem Verlust ihres ganzen Vermögens ausgesetzt sahen und damit dem, was das Leben möglich machte? Christoph hatte das Murren darüber deutlich auf den Straßen gehört. Man machte sich keine Freunde mit diesem Vorgehen. Die Ausgewiesenen durften nur das Handgepäck mitnehmen, die Arbeits- und Kampffähigen sollten ins innere Frankreich, die anderen aber ins rechtsrheinische Deutschland verlegt werden.
Aber was sollte er sagen? Stumm und stocksteif stand er da, während Tante Juliane weinend in ihrem Sessel zusammensank.
»Wo sollen wir nur hin, wenn wir hier fortmüssen? Wovon sollen wir leben? Deinem Onkel geht es nicht gut, Christoph, du weißt, dass es ihm nicht gut geht. Das wird er nicht verkraften.«
Juliane schlug die Hände vors Gesicht. Christoph biss die Zähne aufeinander, dass sein Kiefer knirschte. Wie soll ich ihnen nur helfen, dachte er verzweifelt, wie soll ich ihnen nur helfen?
Hubertus würde das nicht überleben.
Christoph schluckte vergeblich im Versuch, seine plötzlich elend trockene Kehle zu befeuchten. Gestern erst hatte er das Thema erneut lange mit Chevillon diskutiert. Er war es müde. Er war es so verdammt müde, Dinge zu verteidigen, die er für falsch hielt. Aber die Sache an sich war doch richtig. Die musste er doch verteidigen … Ach Gott, er wusste einfach nicht, was zu tun war.
Wieder hörte er Tante Julianes bebende Stimme. Sie weinte nicht mehr, doch sie rang immer noch deutlich um Fassung.
»Bitte, Christoph, bitte hilf uns. Mein Hubertus wird sterben, wenn man ihn jetzt vor die Tore der Stadt jagt wie einen räudigen Hund.«
Aber die Entscheidungen waren getroffen, und sich dagegen aufzulehnen war vergebens. Mit hängendem Kopf kehrte Christoph bald zurück. Tante Juliane nahm die Nachricht beherrschter auf als erwartet.
»Danke, Christoph«, sagte sie und wies ihr Mädchen an, einige wenige Habseligkeiten zusammenzupacken, die sich einfach tragen ließen.
»Geh zu deiner Schwägerin, zu meiner Mutter«, stotterte er, »Emmeline wird sich freuen, euch Obdach gewähren zu können.«
»Ja, vielleicht.« Tante Juliane blickte ihn ernst an. »Bitte lass mich jetzt für einen Moment alleine.«
Christoph gehorchte. Natürlich fand er sein Zimmer leer vor, doch zum ersten Mal seit längerer Zeit war er froh darum. Er wollte niemanden sehen, wollte mit niemandem reden. Er setzte sich an den Schreibtisch, um einen Brief an die Eltern zu formulieren, doch es wollte ihm nichts Rechtes einfallen, um die Lage zu schildern, und die Worte der Verteidigung, die sich in seine Formulierungen schleichen wollten, klangen selbst in seinen Ohren schal.
Früh am nächsten Morgen begleitete Christoph Onkel und Tante zum Sammelplatz. Die ersten etwa vier- bis fünfhundert Personen waren Ende März
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