Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
werde ihr niemals verzeihen.
In den Tagen nach Mariannes Rückkehr versuchten die Eltern mehr über das Leben in Mainz herauszufinden, und Marianne berichtete nach bestem Wissen und Gewissen. Sie ahnte, wie sehr die Mutter und vielleicht auch der Vater den Sohn vermissten. Es verwunderte sie deshalb nicht, als Emmeline eines Tages während Mariannes üblichem Spaziergang im Garten auftauchte und noch einmal die gleichen, im Tonfall aber doch so dringlichen Fragen stellte.
»Geht es ihm gut? Bringt er sich in Gefahr?«
Vielleicht wäre es ehrlicher gewesen, mit den Achseln zu zucken, aber Marianne legte der Mutter beruhigend die Hand auf den Arm.
»Er passt auf sich auf, Mama, Christoph hat immer auf sich aufgepasst.«
Sie bemerkte, wie Emmeline die Schultern hob, der Tochter dann einen längeren Blick von der Seite zuwarf.
»Dein Wort in Gottes Ohr … Du.« Sie zögerte. »Irgendetwas ist an dir, Marianne, irgendetwas. Ich weiß nicht …«
Sie musterte die Tochter noch einmal genauer, und es war dieser Moment, in dem Marianne das Herz sinken wollte, doch dann lachte Emmeline gequält.
»Ach Gott, ich sehe Gespenster. Weißt du, es ist so schwer ohne Christoph, und mit Vater kann ich nicht reden.«
Sie seufzte. Marianne nahm alle Kraft zusammen und streichelte ihrer Mutter über den Arm.
»Ich verstehe dich, Mama, ich verstehe dich sehr gut.«
Emmeline nickte zuerst nur, betupfte dann ihre Augen mit dem Taschentuch und wandte sich zum Gehen. Sie hatte ohnehin schon viel mehr gesprochen als gewöhnlich.
»Vater wird mich schon vermissen«, sagte sie.
»Ja, Mama, ich gehe nur noch ein Stückchen, wenn es recht ist.«
»Geh nur, es ist gerade nicht viel zu tun, wie du weißt.«
»Ja, Mama.«
Marianne sah ihrer Mutter hinterher, bis die hinter den Bäumen verschwunden war, strich dann mit einer Bewegung über ihren Bauch, der sich unter dem weiter geschnürten Leibchen schon ein wenig rundete. Hatte ihre Mutter ihr die Schwangerschaft insgeheim angesehen, hatte sie die Wahrheit nur noch nicht erkannt? Würde sie sich nun bald verraten? Ein Schauder durchfuhr Marianne, dann stapfte sie entschlossen weiter.
Am Abend kam Anton zu Besuch, der eben aus Mainz zurückgekehrt war. Christoph, wusste er zu berichten, sorgte weiterhin umsichtig dafür, dass Tante Julianes und Onkel Hubertus’ Haus durch die Einquartierungen keinen Schaden erlitt, und hatte sich deshalb zuweilen auch mit den verantwortlichen französischen Stellen herumzuschlagen. Erst kürzlich hatten Soldaten auf der Suche nach dem im waldarmen Mainz so raren Brennholz einen kleinen Holzschuppen der Familie Brand abgeschlagen. Auch das am Bruchweg lagernde Holz war in diesem unerwartet kalten Winter heiß begehrt, und am Michelsberg rissen die Franzosen Reben aus dem Boden, um sich Brennmaterial zu verschaffen.
Man lud Anton zum Nachtmahl ein. Danach setzte sich die Familie in der guten Stube zusammen. Während Marianne und Helene stumm zuhörten und die Mutter Kleidung flickte, ereiferten Valentin und Anton sich über die fränkische Konstitution, über die in diesem Dezember erstmals alle Männer ungeachtet ihres Einkommens abstimmen sollten.
Wenn Marianne Gianluca in diesen letzten Tagen des Jahres 1792 und in den ersten Wochen des Jahres 1793 sehen wollte, musste sie sich größte Mühe geben, denn Helene ließ sie jetzt kaum noch aus den Augen. Wieder einmal musste sie sich das Leibchen weiter schnüren, änderte heimlich Nähte an Jacke und Rock und betete darum, dass ihr Zustand weiterhin niemandem auffiel.
Nachdem Christoph der Familie zu Weihnachten endlich einen kurzen, tränenreichen Besuch abgestattet hatte und mit Vater und Anton, wie zu erwarten, über die fränkische Konstitution gestritten hatte, traf der nächste Brief erst im Februar 1793 ein. In ihm schrieb der Bruder vom Eintreffen der französischen Kommissare, berichtete davon, dass im Rahmen eines Freiheitsfestes ein größerer Freiheitsbaum aufgestellt worden sei, denn der alte war ja, wie sie alle wussten, gegen Ende des letzten Jahres mutwillig zerstört worden. Christoph endete mit dem Hinweis, dass bald jene Mainzer der Stadt verwiesen werden sollten, die sich immer noch öffentlich weigerten, den Eid auf die neue Verfassung abzuleisten.
Unterdessen rückten die Koalitionstruppen weiter auf Mainz vor, ein Umstand, der Emmeline beunruhigte und von Valentin und Anton mit Zuversicht verfolgt wurde. Bald würde es mit dem welschen Zauber vorbei sein, bald würde
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