Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
zartes helles Muster auf seinen Händen und wahrscheinlich auch auf seinem Gesicht. »Ich strecke nichts aus, verdammt. Ich bin hier, weil du mich darum gebeten hast und weil ich das Geld gut gebrauchen kann.«
Wolf schüttelte den Kopf. »Ach, Junge, du musst doch meine Fehler nicht wiederholen. Sprich mit ihr. Manchmal denke ich, ich hätte damals …«
»Misch dich nicht in meine Angelegenheiten, ja?«
Tom hängte den Farbroller an einem Haken an der Leiter fest und polterte so eilig die Sprossen hinunter, dass Wolf zur Seite springen musste. Er schwieg, während Tom seine Arbeit kurz begutachtete und sich dann wieder daranmachen wollte, auf die Leiter zu steigen.
»Sprich mit ihr«, wiederholte er dann.
Tom spürte eine Berührung an seinem Arm, wollte sie abschütteln, tat es dann aber doch nicht.
»Woher willst du wissen, dass sie etwas von mir will?«, fragte er, die Augenbrauen gerunzelt. Dann schaute er unwillkürlich auf die Mauer, von der man durch das Fenster einen winzigen Ausschnitt sah. Dort hatte er mit Lea gestanden. Er hatte sie geküsst, und sie hatte nicht reagiert. Überhaupt nicht. Sie war vollkommen teilnahmslos geblieben. Ja, das war das richtige Wort: teilnahmslos.
Er riss seinen Arm aus Wolfs Griff.
»Ich werde mich jedenfalls nicht noch einmal blamieren, und jetzt lass mich bitte in Ruhe.«
Tom trat einen Schritt zur Seite, schloss nach kurzer Überlegung den offen stehenden Farbeimer und ging zur Tür.
»Wo willst du denn jetzt hin?«, rief Wolf ihm hinterher.
»Spazieren«, gab Tom zurück. »Und dann rufe ich Conny und Mia an.«
Obwohl Lea sich bemühte, die richtigen Fragen zu stellen, sagte Claire nur noch wenig zu Ludwig. Sie könne sich nicht erinnern, meinte sie endlich, sei müde, schließlich sei sie eine alte Frau. Noch vor Ablauf der zwei Stunden Parkfrist waren sie wieder am Wagen. Auf der Rückfahrt sprachen sie nur wenig.
Als Lea auf den Weg zum Gut einbog, wo sie vor dem endgültigen Heimweg noch einmal nach dem Rechten sehen wollten, hatte Claire die Augen geschlossen. Lea konnte nicht ausmachen, ob sie schlief. Mit einem Ruckeln erklomm der Polo die Hügelkuppe, die den ersten Blick auf das Weingut freigab. Das Tor war noch offen, sodass Lea ohne anzuhalten hindurchfahren konnte. Sie parkte das Auto an gewohnter Stelle. Als der Motor ausging, schreckte Claire hoch. Offenbar war sie tatsächlich eingenickt. Vielleicht war sie ja doch müde gewesen, wenn Lea auch den Eindruck gehabt hatte, dass sie die Müdigkeit anfänglich nur vorgetäuscht hatte.
»Sind wir schon da?«
Claire unterdrückte ein Gähnen. Lea nickte, stieg aus und öffnete die Beifahrertür. Erst als sie beide auf die Haustür zugingen, bemerkten sie, dass dort jemand stand und auf sie wartete. Jemand, der nun mit schnellen Schritten auf sie beide zukam.
»Friederike«, rief Claire als Erste. Ihre Stimme zitterte.
Mama, dachte Lea selbst bei sich, Mama, was machst du denn hier?
Rike sah Claire nicht an. Ihre Augen blieben auf Lea gerichtet.
»Was willst du von der da?«, sagte sie. »Was willst du von dieser Frau?«
1948
Mit siebzehn Jahren hatte Rike erfahren, dass ihre Mutter nicht schon vor Jahren bei einem der Bombenangriffe zu Tode gekommen war. Nein, ihre Mutter war aus Fleisch und Blut, war eine, die abgehauen war und Mann und Kind zurückgelassen hatte. Ein Flittchen.
Auch in späteren Jahren vergaß sie jenen Tag nie. Es war ein langweiliger Sonntagnachmittag gewesen. Sie hatte sich in das Boudoir ihrer Großmama geschlichen, einer feinen Dame, deren Frisiertisch Rike in diesen Jahren immer wieder magisch anzogen hatte. Es war die Zeit der ersten heimlichen Rendezvous gewesen, der ersten Verabredungen zu Milchshakes und gemeinsamen Schwimmbadbesuchen.
Sie horchte, um sicherzugehen, dass sie niemand bei ihrem Tun überraschte, aber im Haus war alles still. Nachdem Friederike die Parfumfläschchen nacheinander aufgestöpselt und wieder verschlossen, an der Puderquaste gerochen und sich vorsichtig etwas Rouge auf die Wangen getupft hatte, war sie endlich dazu übergegangen, die Schubladen auf der Suche nach neuen Kosmetika zu öffnen, die ihre Großmutter, Nora Neuberger, von Zeit zu Zeit kaufte – und dabei war es ihr in die Hände gefallen, das Bündel sorgsam gefalteter Briefe mit scharfen Ecken, von einem hellblauen Band gehalten. Sie lagen ganz hinten in einer der Schubladen und waren ihr bisher nie aufgefallen. Vielleicht hatten sie vorher aber auch an anderer Stelle
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