Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Berlin, und Johanne würde es ganz sicherlich auch zum Film schaffen.
»Himmel, meine Eltern frage ich doch nicht. Wenn ich endlich volljährig bin, muss ich das, Gott sei Dank, auch nicht mehr. Ich muss ja nur noch drei Jahre schaffen.«
»Ich weiß. Was machst du, wenn sie wollen, dass du eine Ausbildung machst oder studierst oder so etwas? Im Sommer ist die Schule vorbei, ich …«
»Eine Ausbildung? Studieren? Ich? Das werden meine Eltern ganz sicherlich nicht von mir verlangen. Vielleicht wollen sie, dass ich heirate, aber einen Ehemann … Na, den werde ich mir noch ein Weilchen vom Hals halten.« Johanne machte eine Pause, während der sie tief durchatmete. »Und dann bin ich auf und davon. Dann hält mich niemand mehr.«
Abenteuerlust vibrierte in ihrer Stimme. Claire wollte gerade etwas erwidern, da war mit einem Mal eine männliche Stimme zu hören.
»Fräulein Mylius! Schwesterherz! Seid ihr schon lange hier?«
Johanne richtete sich auf und blinzelte den Neuankömmling gegen die Sonne an. Stumm betrachtete Claire den blonden, groß gewachsenen und muskulösen Mann, der neben ihnen aufgetaucht war: Will … Neuerdings verschlug es ihr schier die Sprache, wenn sie ihn sah. Johannes Bruder hatte etwas ungemein Charmantes, was Johanne allerdings nicht zu bemerken schien. Die Geschwister zankten sich fast ständig.
»Ach, du bist das …«
Ihre Stimme klang gelangweilt. Im nächsten Moment war sie aufgesprungen und zum Wasser hinübergelaufen. Wilhelm starrte ihr hinterher und deutete dann auf die Decke und den Platz, den seine Schwester freigegeben hatte.
»Darf ich mich setzen, Claire?«
Claire nickte. Obwohl Johanne, er und sie schon miteinander spazieren gegangen waren, obwohl sie einander schon eine gute Weile kannten und sie längst den Eindruck hatte, Will alles von sich erzählt zu haben, was sie von sich wusste und noch viel mehr, überkam sie in seiner Gegenwart öfter ein seltsames Gefühl der Fremdheit.
Er ist so schön, dachte sie unwillkürlich.
Will lächelte sie an. Unsicher lächelte Claire zurück. Eigentlich hatte er ihr schon kurze Zeit, nachdem sie ein ander kennengelernt hatten, bedeutet, dass ihm etwas an ihr lag, und das verwirrte sie noch mehr. Er war ein richtiger Mann, nicht ein Junge, wie die von der Nachbarschule.
Will war fünfundzwanzig Jahre alt und würde bald in die florierende Firma seines Vaters – Import und Export, was auch immer das bedeutete – einsteigen. Er hatte einen kräftigen Kiefer, tiefblaue Augen und eine gerade Nase, wie bei einer römischen Statue.
Schön wie eine Statue ist er, mein Bruder, hatte Johanne auch einmal bemerkt, und wenn man jeden Tag mit ihm verbringen darf, ist er in etwa auch genauso unterhaltsam.
»So schweigsam heute«, neckte er sie nun.
Claire musste ihm ausweichen, schaute zu Boden. Noch nicht einmal jetzt, wo er offenbar alles tat, um sie nicht zu verschrecken, wollte es ihr gelingen, die richtigen Worte zu finden.
»Ich wollte dich demnächst gerne unserer Mutter vorstellen«, sagte er nun.
Claire schreckte hoch.
»Deiner Mutter? Warum?«
»Na, warum wohl? Weil du mir gefällst.«
Claire lief puterrot an. Wills Mundwinkel zuckten. Seine Augen musterten sie mit einem irritierend kühlen Interesse, doch schon im nächsten Augenblick war sie wieder überzeugt davon, sich geirrt zu haben. Nein, sein Lächeln war gewinnend und freundlich.
»Komm, lass uns gleich gehen«, sagte er jetzt. »Ich weiß, dass Mutter heute zu Hause ist.«
»Aber ich habe gar nichts Rechtes zum Anziehen dabei.«
»Du siehst immer reizend aus.«
Er streckte ihr die Hand hin.
»Und Johanne?«, begehrte Claire noch einmal schwach auf.
»Na, sie wird schon wissen, dass du mit mir unterwegs bist. Komm, zieh dich rasch an.« Er sah sich kurz um und deutete dann zu Johanne hin. »Mein Schwesterherz ist ohnehin beschäftigt.«
Claire folgte seiner Hand. Johanne stand bei den Ballspielern und war in ein Gespräch vertieft. Ab und an konnte man sie lachen hören. Will zog Claire mit einem kräftigen, sicheren Griff auf die Füße. Es war müßig, sich gegen seine Stärke zu wehren. Sie verschwand rasch, um sich anzuziehen.
Wenig später hatten sie seinen Mercedes erreicht, den er in einer Seitenstraße in der Nähe geparkt hatte. Claire zupfte an ihrem einfachen Rock und strich sich mehrfach die Bluse glatt. Ein kühler Windzug sorgte für eine Gänsehaut an ihren Beinen. Ihr klopfte das Herz bis in den Hals, als sie in Wills Sportwagen Platz
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