Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
erfahren, was damals geschehen war?
»Na, dann bin ich mal gespannt.« Lea ließ den Motor an. Ruckelnd bewegte sich das Auto über den unebenen Boden auf das Tor zu.
»Gute Güte, ich war über sechsundsechzig Jahre nicht mehr dort«, sagte Claire nachdenklich, als der Polo gerade die Hügelkuppe überfahren hatte, dann schwieg sie.
Bad Münster am Stein-Ebernburg ist ein kleines Städtchen im Schatten eines großen Felsens – des Rheingrafensteins – und an der Nahe gelegen. Im Stadtteil Ebernburg thront die gleichnamige Burg über dem ehemals verfeindeten Nachbarort. Hier war einmal die bayrisch-preußische Grenze verlaufen. Lea parkte das Auto auf dem Bahnparkplatz, wo sie es zwei Stunden stehen lassen konnten. Nachdem sie beide ausgestiegen waren, hielt Claire sich zunächst am Autodach fest und blickte sich um.
»Es hat sich einiges verändert«, sagte sie und ließ dabei den Blick über eine Bäckerei, einen Blumenladen und dann über die gegenüberliegende Kirche gleiten. Ein Stadtbus fuhr die nahe gelegene Haltestelle an. Ein paar ältere Leute stiegen ein.
Auch Lea sah sich um. Manches Haus an der Hauptstraße erwies sich erst auf den zweiten Blick als kleines Schmuckstück aus vergangenen Zeiten.
»Das hier war einmal ein wirklich eleganter Kurort«, sagte Claire unvermittelt. »Hier traf sich die haute volée , wie man in der Gegend so gerne sagt, Reiche, Adlige, sogar gekrönte Häupter.«
Lea nickte. Sie waren bereits ein Stück die Hauptstraße entlanggegangen, als Claire den Arm ausstreckte.
»Da ist es ja, ein wenig verändert, aber eindeutig.«
Lea betrachtete das Haus, an dem große, dicke Lettern auf das Café Die süße Ecke aufmerksam machten. Es lag direkt in einer Kurve.
Das Gemisch aus modernen Elementen, Jugendstil und Jahrhundertwende, das schon außen zu sehen war, setzte sich auch im Inneren fort. Das Café selbst war L-förmig. Genau in der Ecke des L befand sich die Kuchentheke, auf die Claire sofort zusteuerte.
Wenig später saßen sie an einem Tisch im längeren Ende des L, weit entfernt von den Türen, vor einer Tasse Milchkaffee und einem Kännchen Pfefferminztee. Bedächtig kostete Claire von ihrer Nusssahnetorte. Lea entschuldigte sich für einen Moment. Auf dem Weg zur Toilette fiel ihr Blick auf einen gerahmten Zeitungsausschnitt, eine uralte Werbung für das Café, das tatsächlich schon um 1907 einen Telefonanschluss gehabt hatte.
Als sie zurückkam, nippte Claire an ihrem Kaffee.
»Damals war es etwas Besonderes für mich hierherzukommen«, sagte sie, nachdem sie die Tasse abgesetzt hatte. Lea pustete leicht in ihren Tee, um ihn etwas abzukühlen. Claires Blick wanderte zu den Jugendstilfenstern. »Ich zog dann mein bestes Kleid an und Ludwig seinen Anzug.«
»Ludwig ist mit dir hierhergekommen?«
»Ja, er hat mich ein-, zweimal ausgeführt, als uns beiden auf dem Gut die Decke auf den Kopf fiel.«
Nachdem Leas Polo vom Hof gefahren war, hatte Tom dem Auto hinterhergeschaut, bis es hinter der Hügelkuppe verschwunden war. Erst dann war er ins Haus zurückgegangen. Nun stand er auf der Leiter, den Farbroller in der Hand, und weißte den oberen Bereich der Wand, während sein Onkel am Fuß der Leiter stand und den Neffen nicht aus den Augen ließ.
»Du wirst mit ihr reden müssen, wenn dir etwas an ihr liegt«, sagte er nun.
»Mir liegt aber nichts an ihr.«
»Erzähl keinen Blödsinn. Ich kenne dich, und ich habe Augen im Kopf.«
Der ältere Mann verschränkte die Arme vor der Brust. Ärgerlich tauchte Tom die Rolle in den Eimer und streifte das Zuviel an Farbe so heftig ab, dass er seine Kleidung bespritzte.
»Und woher weißt du bitte, dass mir etwas an ihr liegt?«, blaffte er. Sein Liebesleben – oder das, was in den letzten Jahren davon übrig geblieben war – ging den Onkel nun wirklich nichts an. Er dachte an die letzten Tage, die er in Hamburg verbracht hatte, und daran, dass er sich gefragt hatte, ob er Lea davon erzählen sollte. Aber das war nun sicherlich übertrieben. Sie waren schließlich kein Paar. Es ging sie nichts an, was einmal in seinem Leben gewesen war, und es interessierte sie bestimmt auch nicht.
»Na, das sieht doch ein Blinder mit Krückstock«, drang Wolfs Stimme an sein Ohr. »Es freut mich, dass du offenbar wieder deine Fühler ausstreckst. Man muss nach vorne blicken.«
»Das sagst ausgerechnet du, ja?« Mit wütenden Bewe gungen führte Tom die Rolle fester über die Wand. Erneut spritzte Farbe auf ihn, bildete ein
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