Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Friederike reisen würde.
Als Friederike den Brief schließlich wieder versteckte, kannte sie ihn fast auswendig – und wusste, dass in ihrem Leben alles anders war, als sie bisher geglaubt hatte.
Vierter Teil
C laire
April 1929 bis August 1930
E rstes Kapitel
Frankfurt, 1929
Das erste Gefühl, das Claire Johanne gegenüber empfand, war tiefe Bewunderung. Johanne war immer ein wenig kecker gekleidet als die anderen Mädchen im Schiller-Gymnasium. Johanne ließ sich nichts gefallen und nahm die Strafen von Fräulein Dahlhoff wie eine Auszeichnung entgegen. Und Johanne rauchte – der Gipfel der Unverfrorenheit. Claire hatte sie eines Tages in einem leeren Klassenzimmer dabei erwischt. Seltsamerweise war dies der Beginn ihrer Freundschaft gewesen.
»Willste mal ziehen?«, hatte Johanne geradeheraus gefragt, und weil Claire sich nicht getraut hatte abzulehnen, hatte sie genickt und den ersten Tabakqualm ihres Lebens eingeatmet. Fast im gleichen Moment hatte sie entsetzlich husten müssen.
Johanne hatte sie prustend ausgelacht.
»Ich glaube, das Erste, was du lernen musst, meine Liebe, ist, Nein zu sagen«, hatte sie immer noch kichernd bemerkt, nachdem Claire wieder halbwegs zu Atem gekommen war.
Einen Augenblick lang sahen die beiden jungen Frauen einander an. Claire sah das weiße Kleid noch genau vor sich, das Johanne an jenem Tag vor einem Jahr getragen hatte. Ein Kleid, das ihren schlanken Körper mit einer leichten Taille betonte und ansonsten beinahe gerade nach unten gefallen war, um kurz unter den Knien zu enden.
»Wie heißt du eigentlich?«, hatte sie nach einer Weile gefragt und sich links einige Strähnen ihres Pagenkopfs hinters Ohr geschoben.
»Claire.«
»Ich heiße …«
»Johanne«, platzte Claire heraus und errötete gleich darauf.
Johanne Neuberger kam aus einer angesehenen, wohlhabenden Familie. Johanne kannte jeder in der Schule, und wer es nicht tat – ob Lehrer oder Schülerinnen –, der lernte sie bald kennen.
»Ah, du kennst mich?«, hatte sie trotzdem kokettiert und sich dabei doch keinen Anschein von Überheblichkeit gegeben. Sie waren sich sympathisch gewesen, vom ersten Augenblick an.
Ein paar Wochen darauf war Wilhelm, genannt Will, zu ihnen gestoßen, Johannes Bruder. Bis dahin war es Johanne gewesen, die Claires ganze Aufmerksamkeit für sich gefordert hatte. Sie verbrachten jede freie Minute miteinander, erledigten die Hausaufgaben gemeinsam, tauschten ihre Kleider, frisierten einander und blätterten in Modejournalen, wie Die Dame oder Elegante Welt .
»Wenn ich endlich volljährig bin«, sagte Johanne einmal, die Zigarette zwischen zwei spitzen Fingern haltend, den Daumen gegen das elfenbeinerne Mundstück gelegt, »dann gehe ich nach Berlin.«
Mit einem Ruck setzte Claire sich auf. Es war April, einer der ersten schönen Tage, und die beiden Freundinnen saßen im Licht- und Luftbad am Main und genossen die Sonne. Zwar kannte Claire Johannes Pläne schon länger, aber nun war der Zeitpunkt wieder ein Stück näher gerückt – bald würde Johanne achtzehn Jahre alt werden, und danach waren es nur noch drei Jahre. Ihr war durchaus unbehaglich bei dem Gedanken, dass ihre Freundin sie dann verlassen würde. Claire musterte Johanne von der Seite.
»Berlin? Aber das ist so weit weg. Wir werden uns dann nur noch ganz selten sehen. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«
»Na, komm doch mit.«
Claire antwortete nicht. Johanne drückte die Zigarette aus, stützte die schmalen Arme nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und winkelte ein Bein an, das sie gleich darauf leicht hin und her wippen ließ. Vom Wasser her drang das jauchzende Geschrei der Badenden zu ihnen, das weit über den Fluss hinweg klang. Ein paar junge Burschen spielten Ball, eine Familie packte ihr Picknick aus.
»Ich gehe zum Film«, Johanne reckte entschlossen das Kinn, »ich werde Schauspielerin, das habe ich schon lange so geplant.«
»Was?« Claire riss die Augen auf. Das wusste sie nicht, das war neu, dabei hatten sie sich beide doch stets alles erzählt. »Und was sagen deine Eltern dazu?«
»Ach Gott …« Johanne legte erneut den Kopf in den Nacken zurück und bewegte ihn nun leicht hin und her, sodass ihr Haar über ihre zarte Haut streifte. Claire kam es vor, als habe sie sich das Haar noch ein wenig kürzer schneiden lassen; als sähe sie noch ein wenig herausfordernder aus: hübsch, dünn und frech, so wie Claire sich die Berlinerinnen vorstellte. Johanne passte nach
Weitere Kostenlose Bücher