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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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stabilisierte, suchte Lea mit beiden Händen an der flachen Wand Halt. Danach musste sie erst einmal nach unten steigen. Auch als sie auf festem Boden stand, zitterten ihr die Knie.
    »Was hast du gesagt?«
    »Geht es dir gut? Meinst du nicht, du solltest langsam etwas kürzertreten? Wie weit bist du jetzt?«
    »Mir geht’s gut«, wehrte sie ihn ab. »Was hast du vorher gesagt?«
    »Onkel Wolf hat mir endlich etwas von dem Haus erzählt, ich war letzten Sonntag bei ihm zum Kaffee. Offenbar haben er und sein älterer Bruder hier früher öfter gespielt, einmal gab’s einen Unfall. Sie sind irgendwo im Boden eingebrochen.«
    »Sein Bruder?« Lea verschränkte die Arme vor der Brust. »Dein Vater, meinst du?«
    Lea spürte immer noch ein Zittern in sich, aber es wurde langsam besser. Während sie sich nun auf einem alten Farbeimer niederließ, stand Tom nur da, eine Schulter gegen die Wand gelehnt, ein Bein leicht angewinkelt.
    »Ja, aber ich nenne ihn nicht gerne so. Wolf war mir immer mehr Vater als er. Na ja, er redet jedenfalls nicht gerne über Bernd, vielleicht hat er deshalb erst jetzt wieder daran gedacht. Bernd war es schließlich, der damals mit seiner Frau weggelaufen ist.«
    »Mit Wolf Wielands Frau? Mit der Frau seines Bruders?« Der Farbeimer schabte über den Boden, weil Lea sich jäh und mit einem ungläubigen Ausdruck im Gesicht nach vorne gebeugt hatte.
    »Ja.« Tom zuckte die Achseln. »Na ja, jedenfalls hat mir Onkel Wolf gestern doch ein bisschen was erzählt. Komm mal mit, ich muss dir etwas zeigen.«
    Er nickte zur Tür hin und schlenderte voraus, Lea folgte ihm. An der Mauer, über die hinweg man die Weinberge betrachten konnte, blieb er stehen.
    Wenig später hatte er ihr die Geschichte erzählt von zwei Jungen, die eine Mutprobe zu diesem alten Gut geführt hatte, und einem alten Mann, vor dem sie geflüchtet waren. Und von dem Skelettfund natürlich. Lea schüttelte sich.
    »Ein Skelett, wirklich? In der Scheune vergraben?«
    Tom nickte. »Da drüben. In einer Art Kammer. Wolf hat erzählt, wie Bernd den Schädel damals aus dem Boden gezogen hat und wie ihnen beiden das Herz in die Hose rutschte. Sie dachten wohl, der Alte ist ein Mörder.«
    Leas Augen verengten sich flüchtig, während sie den Arbeitern zuschaute, die sich im nächstliegenden Weinberg zu schaffen machten. Mitte September hatte die Lese begonnen.
    »Und der Alte, also Claires Onkel Ludwig, hat dann Hilfe geholt?«
    »Offenbar.« Lea bemerkte, dass Tom sie kurz von der Seite musterte und dann auch zum Weinberg blickte. »Aber das müsste Ilse genauer wissen.«
    »Ach ja, Tante Ilse.« Lea legte einen Arm auf die Mauer und stützte ihr Kinn darauf. »Von ihr können wir wohl nichts Verlässliches erfahren … Natürlich«, sie stotterte jetzt, »tut mir das vor allem leid für sie.«
    Tom lachte leise. »Klar doch.«
    »Und was geschah mit Ludwig?«, fragte Lea dann, immer noch leicht beschämt.
    Tom zuckte die Achseln. »Man hat ihn wohl verhört, aber nachdem sich herausstellte, dass das Skelett schon mindestens hundert Jahre alt war, hat man ihn freigelassen.«
    »Hat er irgendetwas zu diesen Vorfällen gesagt?«
    »Nein, überhaupt nichts.« Tom drehte sich unvermittelt zu ihr hin. »Niemand konnte sich darauf einen Reim machen. Ein paar Wochen später …« Er holte tief Luft. »Ein paar Wochen später ist er wohl gestorben. Ilse hat ihn gefunden, soweit ich weiß. Danach war sie nicht mehr dieselbe. Sie mochte ihn sehr. Sie hat immer gesagt, dass man dem Alten unrecht tut.«
    »Traurig.« Lea strich unwillkürlich über ihren Bauch, ließ die Hände dann sinken.
    »Ja, vielleicht.« Tom musste ihre Bewegung bemerkt haben, denn er schaute zuerst auf die sehr leichte Wölbung unter ihrem engen T-Shirt und dann in ihr Gesicht. »Geht es dir wirklich gut?«
    »Natürlich«, entgegnete Lea zögerlich und zupfte an ihrer ersten Umstandshose. Es irritierte sie, wie Tom sie anblickte, wie eine Frau nämlich und nicht wie eine Schwangere.
    »Du sahst sehr traurig aus damals, als du den Sonnenaufgang beobachtet hast«, sagte er unvermittelt.
    Lea versuchte sich daran zu erinnern, wie sie sich gefühlt hatte, doch inzwischen schien alles so lange her. Es war eine andere, der das Herz in der Brust gehämmert hatte, als wolle es hinausspringen. Eine andere, die mit den Tränen gekämpft hatte.
    »Hm«, sagte sie nur.
    Tom rückte mit einem Mal näher, strich Lea zart über den linken Kinnbogen, beugte sich dann vor und küsste sie.

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