Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Ich wollte …«
»Hast du aber nicht.«
»Und dann kam der Krieg, und …«
»Ich habe in Erfahrung bringen können, dass das alte Haus getroffen wurde. Ich dachte, ihr wärt tot.«
»Überprüft hast du das aber nicht.«
»Nein, ich …«
Rike spürte, wie sich das eigene Gesicht verschloss. Sie sagte nichts mehr, sosehr Claire sich auch bemühte, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
Schließlich hatte ihre Mutter die immer noch fast volle Tasse abgestellt und war wenig später gegangen.
Nun, da sie den Umschlag anstarrte, begann Rike wieder zu zittern. Aber sie hatte doch eigentlich mit Claire reden wollen. Sie hatte sie fragen wollen, warum sie gegangen war, warum sie ihre Tochter zurückgelassen und ein neues Leben begonnen hatte. Als junge Erwachsene hatte sie sich sogar für ein paar Jahre das Bild einer Frau erschaffen, die vor den Nazis geflohen war, aber dem war nicht so. Ihre Mutter war gegangen, um ein neues Leben zu beginnen, und hatte ohne zu zögern ihr Kind zurückgelassen. Sie hatte eine Handvoll Briefe geschrieben, aber es waren nicht mehr als zehn gewesen – Rike hatte sie damals gezählt –, und sie hatte sich offenbar nie darum gekümmert, ob ihre Tochter diese Briefe erhalten hatte. Ob sie wirklich geglaubt hatte, dass ihre Tochter im Krieg umgekommen war?
Rike musste einige Male tief durchatmen, bevor das Zittern aufhörte, dann streckte sie die Hand nach dem Umschlag aus. Es befanden sich Fotos darinnen, kleine, alte, abgegriffene Fotos mit gezackten Rändern.
Auf dem ersten war eine Claire mit langen Zöpfen zu sehen, das war deutlich am Lächeln erkennbar. Eine Frau mit kurzem Pagenkopf stand an ihrer Seite. Rike drehte das Bild um. Tatsächlich hatte jemand etwas hinten draufgeschrieben. Claire und Johanne, Sommer 1929. Das war zwei Jahre vor ihrer Geburt gewesen.
Johanne, dachte sie, Papas Schwester, die früh Verunglückte. Die Unvollendete. Sie schaute das Bild noch einmal an. Claires Lächeln wirkte zurückhaltend, es war das andere Mädchen, das herausfordernd in die Kamera strahlte. Von Johanne hieß es, sie sei immer lebhaft gewesen, die Einzige, die Großmutter Nora widersprochen hatte. Im Hintergrund waren ein Fluss und ein Schiff zu sehen, vielleicht der Rhein. Offenbar hatten die jungen Frauen einen Ausflug gemacht.
Rike nahm das nächste Bild zur Hand. Ein Hochzeitsfoto. Wieder Claire, dieses Mal mit Schleier, an ihrer Seite ein ausgesprochen schöner, großer Mann in dunklem An zug mit einer Blume im Knopfloch. Papa …
Juli 1930, war hinten vermerkt. Zehn Monate später war sie, Rike, zur Welt gekommen. Ihre Mutter war offenbar sehr kurz nach der Hochzeit schwanger geworden. Ob sie glücklich gewesen war?
Rike erinnerte sich nur schlecht an ihren Vater. Er war einer der vielen gewesen, die im Krieg geblieben waren. Sie hatten kaum etwas miteinander zu tun gehabt. Sie war ja auch viel zu jung gewesen, außerdem nur ein Mädchen. Als Großvater kurz vor Kriegsende einen Herzinfarkt erlitten hatte, war ein reiner Frauenhaushalt zurückgeblieben, der vom knappen, aber doch regelmäßig fließenden Erbe der Familie Neuberger lebte.
Rike musterte den Gesichtsausdruck ihrer Mutter. Blickte sie erleichtert drein? Glücklich? Vor allem sah sie süß aus und sehr kindlich.
Auf dem nächsten Foto war ein Teil der Hochzeitsgesellschaft zu sehen: Braut und Bräutigam, daneben Johanne, die sie schon auf dem anderen Bild gesehen hatte, dann eine ältere Frau mit verkniffenem Mund. Oma Nora.
Beim letzten Foto hielt Rike inne. Claire war darauf zu sehen, auf ihrem Arm ein kleines, schlafendes Mädchen.
Mein süßer Engel, hatte jemand in runden, mädchenhaften Buchstaben auf der Rückseite notiert. Friederike Josephine Neuberger, 18. Mai 1931.
Sechster Teil
L uisa
April 1793 bis Januar 1794
E rstes Kapitel
Bonnheim, April 1793
Helene hatte Antons Bettseite kaum verlassen, seit der Vater und Friedel den Verletzten ins Haus getragen hatten. Sie war dabei gewesen, als Dr. Kamenz, der alte Arzt, Antons Kopfwunde gewaschen und gesäubert hatte. Sie hatte geholfen, den Verband anzulegen, und hatte bei dem Verletzten gesessen, als der aus der Bewusstlosigkeit erwacht war.
Als Anton die Augen erstmals wieder für längere Zeit aufschlug, sah er sie nur lange und stumm an. Nach einer Weile räusperte er sich.
»Marianne?«, krächzte er. »Geht es ihr gut?«
Helene nickte.
»Deine Eltern vermiss…«
»Nicht nach Hause«, unterbrach er sie, und es klang, als strenge
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