Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
sprechen, um doch früher Zugriff auf das Guthaben zu erlangen.
Entschlossen verriegelte Claire das Fenster, dann kehrte sie zum Bett zurück, schob nach kurzem Überlegen die Hand unter die Matratze und zog den Brief ihres Vaters hervor, den Dr. Faber ebenfalls für sie aufbewahrt hatte. Bisher hatte sie es nicht über sich gebracht, ihn zu lesen. Der Verlust war noch zu frisch, zu schmerzhaft.
Behutsam öffnete sie den Umschlag: »Liebe Claire, wenn Du diesen Brief liest, bin ich tot … Ich wollte immer Dein Bestes und bin so schrecklich gescheitert. Vielleicht liegt dieses Scheitern ja tatsächlich in unserer Familie …«
Fünfter Teil
D as Haus der Schwestern
Oktober 1997
E rstes Kapitel
Seit sie den Herzschlag ihres Kindes zum ersten Mal gesehen hatte, suchte Lea bei jeder Untersuchung nach diesem kleinen pulsierenden Punkt, bevor sie sich entspannte. Der sonstige Ablauf war Routine geworden. Urinprobe, Wiegen, Blutdruckmessen, Blut abnehmen.
Im Wartesaal nahm sie sich stets Zeit, die anderen Schwangeren zu beobachten. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie so viele Schwangere gesehen. Morgens um halb zehn im Wartezimmer eines Frauenarztes deutete nichts darauf hin, dass bald keine Kinder mehr geboren würden.
Auch dieses Mal zeigten sich keine Auffälligkeiten. Lea konzentrierte sich wieder auf den Monitor. Eine Wirbelsäule, fein wie eine Perlenschnur, zeichnete sich vor dem dunklen Hintergrund ab. Das Kind bewegte die Hand, als winke es ihr zu, und begann dann, an seinem großen Zeh zu lutschen.
Wem es wohl ähnlich sehen wird?, fragte sich Lea.
Bei der letzten Untersuchung hatte ihr die Ärztin mitgeteilt, dass es sich mit ziemlicher Sicherheit um ein kleines Mädchen handelte.
Ein kleines Mädchen, hatte sie sich gefreut. Sie würde es schaffen. Sie würde ihrer Tochter eine gute Familie sein.
Sie musste plötzlich an Tom denken. Seit dem Kuss hat ten sie nur das Nötigste miteinander gesprochen, und das tat ihr leid. Es hatte ihr nicht missfallen. Wirklich nicht. Ihr hatten nur die Worte gefehlt. Wieder einmal.
Auf die Anweisung der Ärztin zog Lea sich wieder an. Der Gedanke, Millie anzurufen, kam ihr unvermittelt. Sie hoffte darauf, dass die Freundin heute nach der Arbeit Zeit für sie hatte. Sie musste jetzt einfach mit jemandem sprechen. Sie musste darüber sprechen, was geschehen war. Sie musste über die Briefe sprechen und über das, was mittlerweile ihre Mutter und ihre Großmutter vor ihr verbargen. Was war damals nur geschehen, dass es offenbar so unmöglich war, darüber zu sprechen?
»Sie muss es dir sagen«, hatte Rike gesagt, während ihr Blick Claire folgte, die ohne ein Wort an ihr vorbei ins Haus gegangen war. »Ich wünsche dir viel Glück, aber ich warne dich. Deine Großmutter ist eine Lügnerin. Das war sie wohl schon immer.«
Lea hatte es nicht über sich gebracht, Rike darauf hinzuweisen, dass sie doch viel zu jung gewesen sei, um sich ein eigenes Urteil erlauben zu können. Rike jedenfalls hatte nicht mitkommen wollen. Sie war einfach gegangen und in ihren alten Opel gestiegen. Dann hatte sie noch einmal die Scheibe heruntergekurbelt, um mit einem Blick auf Leas Bauch zu fragen: »Wann hättest du es mir gesagt?«
»Bald«, stotterte Lea, »ich wollte es dir doch schon sagen …«
Ihre Mutter winkte nur ab.
Als Lea oben angekommen war, hatte sich Claire schlafend gestellt. Wieder einmal hatte Lea ihre Fragen nicht stellen können.
Die Tür der Arztpraxis fiel hinter ihr zu. Wenig später stand Lea unten vor dem Eingang auf dem Gehweg und tippte Millies Nummer in ihr Handy ein. Die Freundin meldete sich nach dreimaligem Klingeln.
»Lea hier. Können wir uns treffen?«, fragte Lea, ohne ihre Freundin groß zu begrüßen.
»Mhm.« Einen Moment lang war es still auf der anderen Seite, gedämpftes Gemurmel folgte, dann erklang wieder Millies Stimme. »Ja, ich könnte sogar früher Schluss machen. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja, ich würde dich nur gerne sehen«, antwortete Lea vage.
»Klaro.«
Sie tauschten noch ein paar Belanglosigkeiten aus, dann legten sie auf. Lea verstaute das Handy in der Handtasche. Natürlich war etwas passiert, aber das hatte sie nicht am Telefon erzählen wollen, und sie wusste ja auch noch gar nicht, wie sie es formulieren sollte.
Sie entschied sich, nicht nach Hause zu fahren und auch nicht zum Weingut, sondern einfach in der Stadt zu bleiben. Wenig später saß sie in einem Café, einen Milchkaffee, eine Kanne Pfefferminztee
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