Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
ihn jedes Wort an. »Nicht nach Hause. Hierbleiben.«
Kurz darauf schlief er wieder ein. Ab und zu bewegten sich seine Hände unruhig auf der Bettdecke, manchmal stöhnte er leise.
Helene schickte einen Boten zu seinen Eltern, so wie sie es ihnen, sollte er endlich etwas sagen, versprochen hatte zu tun, und setzte die Weidmanns darüber in Kenntnis, dass ihr Sohn noch nicht transportfähig sei. Doch wenig später standen Herr und Frau Weidmann mit einem sorgsam mit Stroh und Heu ausgepolsterten Karren im Hof. Anton aber weigerte sich, mit ihnen zu kommen. Warum, konnte Helene sich nicht erklären, und wohl wissend, dass er ihr keine Antwort geben würde, fragte sie ihn auch nicht danach.
Über die nächsten Tage flößte sie ihm Suppe ein, wenn er erwachte, oder reichte ihm gewässerten Wein zum Trinken, wenn er danach verlangte. Sie schüttelte seine Kissen auf und wusch ihm die Hände und vor allen Dingen das Gesicht, auf dem sich immer wieder eine dünne Schweißschicht bildete, denn er hatte zu fiebern begonnen. Sie half ihm sogar, sich zu erleichtern. Er wurde ihr vertrauter in dieser Zeit, obwohl sie einander doch schon so viele Jahre kannten. Sie erinnerte sich auf einmal daran, dass sie als Kinder gemeinsam bei einer unheimlichen verfallenen Mühle in der Nähe seines Elternhauses gespielt hatten.
Manchmal hatte sie den Eindruck, er wolle gar nicht gesund werden.
Heute war er zum ersten Mal längere Zeit wach gewesen, ohne über Kopfschmerzen zu klagen. Trotzdem sprachen sie wenig.
Helene saß am Fenster, hatte eine Näharbeit zur Hand genommen und setzte hoch konzentriert einen kleinen Stich neben den nächsten. Anton ruhte in einem Lehnstuhl an ihrer Seite und starrte hinaus. Ab und an wagte sie es, den Kopf zu heben und zu ihm zu schauen.
Heute Morgen war sein Verband gewechselt worden und hob sich nun neu und strahlend weiß von seinem dunklen Haar ab. Als er plötzlich doch sprach, zuckte Helene zusammen.
»Entschuldige?« Sie sah zu ihm hin, die Stirn gerunzelt.
Antons Blick sprach von seinem Elend.
»Sie liebt mich nicht«, wiederholte er offenbar seine Worte. »Marianne hat mich nie geliebt.«
Helene senkte den Kopf und starrte ihre Hände mit Nadel und Faden an. Blutrot hob der sich von ihrer weißen Haut ab, dazu ein Gewirr aus Grün und ein wenig Blau.
»Es tut mir leid, ich …«, setzte sie an.
Anton hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Die Mutter hat’s mir immer gesagt. Die ist nichts für dich, hat sie gesagt, aber ich wollte es nicht glauben.«
Sein Blick wurde erneut starr. Helene legte das Stickzeug zur Seite.
»Marianne wollte dich bestimmt nicht verletzen«, sagte sie nach einer Weile leise, selbst überrascht davon, dass sie die Schwester verteidigte. Kurz nach Antons Unfall hatten sie sich noch einmal heftig gestritten, als sie Marianne beim Durchstöbern ihrer Briefe und Schriftsachen erwischt hatte, seitdem herrschte ein brüchiger Frieden zwischen ihnen.
Unwillig schüttelte Anton den Kopf, verzog dann das Gesicht, weil ihn die Bewegung offenbar doch schmerzte.
»Sie ist …« Er suchte nach Worten, setzte dann neu an. »Wer wollte jetzt noch Umgang mit ihr haben wollen, ihr Ruf ist …« Erneut sprach er nicht weiter, drehte den Kopf schließlich zum Fenster und schwieg.
Helene starrte ihre Hände an. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie sich gewiss gewünscht, ihre Schwester möge in ihre Schranken gewiesen werden. Jetzt tat ihr Marianne leid. Es musste furchtbar sein, wenn man wusste, dass über einen geredet wurde. Seit den schrecklichen Ereignissen durfte die Schwester das Zimmer kaum verlassen und auch keinen Besuch empfangen, außer den des Pfarrers. Am Abend der Ereignisse, die zu Antons Unfall geführt hatten, stritten Mutter und Vater sich lautstark. Helene konnte sich nicht erinnern, dass so etwas je zuvor passiert war. Was würde erst geschehen, wenn sich die Eltern gewahr wurden, dass die Lage noch viel schlimmer war: Marianne erwartete ein Kind.
Z weites Kapitel
»Ihr werdet mir mein Kind nicht stehlen.« Mariannes Stimme klang hoch und schrill. Helene, die gerade den Flur durchquerte, blieb wie angewurzelt stehen.
»Das wirst du nicht entscheiden«, war gleich darauf Vaters Stimme zu hören. »Und jetzt geh zurück in dein Zimmer, bis du Vernunft angenommen hast.«
»Schande, du hast uns Schande bereitet, Marianne«, schloss sich sogleich die Stimme der Mutter an. Am Tonfall konnte Helene hören, dass sie weinte. Vorsichtig,
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