Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
und ein Stück Käsekuchen vor sich, und dachte nach.
»Himmel, wo hast du die denn gefunden?« Fasziniert hob Millie das Bündel Briefe hoch.
»Unter den Dielen. Sie klemmten in einer Ecke fest.«
»Hast du die alle schon gelesen?«
»Mehr oder weniger.« Lea strich sich in einer unwillkürlichen Bewegung über ihren Bauch. »Die Schrift ist manchmal nicht ganz leicht zu entziffern. Manche Briefe sind auch nicht vollständig. Ich weiß eigentlich immer noch nicht recht, worum es geht.«
»Hm. Dann werden wir wohl unsere Fantasie spielen lassen müssen.« Millie beugte sich über einen der Brieffetzen. »Ist aber wirklich nicht leicht«, stellte sie dann fest.
»Das hat Tom auch schon gesagt.«
»Tom hat sie gelesen?«
Lea dachte an die letzten Momente der Missstimmung zwischen ihnen. Inzwischen hatte sich die Lage wieder entspannt, ausgesprochen hatten sie sich aber noch nicht. Vielleicht würde ihnen das Haus die Gelegenheit dazu geben.
»Er interessiert sich für Geschichte. Seiner Meinung nach sind die Briefe mindestens zweihundert Jahre alt. Wahrscheinlich wurden sie von einer Frau geschrieben, so weit sind wir schon, aber bis auf ein M. nennt sie ihren Namen nicht. Den oder die, an den sie schreibt, bezeichnet sie mit G. Neben den Briefen gibt es außerdem kleinere Beschreibungen von Ausflügen und Begebenheiten.«
Millie nickte verstehend, dann legte sie eine Hand auf Leas rechten Arm.
»Ich kann immer noch nicht glauben, was du mir da von deiner Großmutter und deiner Mutter erzählt hast. Du hast wirklich keinen blassen Schimmer, worum es zwischen den beiden geht?«
»Na ja, meine Großmutter hat meine Mutter offenbar zurückgelassen, als sie sehr klein war. Es hat wohl etwas damit zu tun.« Lea schüttelte den Kopf. »Das Seltsame ist, dass ich mir das gar nicht vorstellen kann, so wie ich Claire kennengelernt habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach gegangen ist, und doch muss sie es getan haben. Meine Mutter ist schließlich bei ihren Großeltern aufgewachsen.«
»Du magst Claire sehr, oder?«
»Ja.« Lea runzelte die Augenbrauen. Und sie ist trotzdem eine Lügnerin.
Millie nahm einen großen Schluck von ihrem Milchkaffee und seufzte dann. »Irgendwie ist das ja auch spannend, oder?« Sie schaute Lea an. »Obwohl ich nicht weiß, ob man so etwas in Bezug auf das eigene Leben sagen sollte, was?«
»Was denn?« Leas Finger strichen nachdenklich über den Rand der Pappkiste, in der sie ihre Fundstücke aufbewahrte.
»Spannend.« Millie musterte ihre Freundin mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck.
»Ist schon gut«, erwiderte die. »Du hast ja recht, dabei habe ich mein Familienleben bisher für eher langweilig gehalten.« Lea versuchte zu grinsen, doch es misslang. Tränen stiegen ihr unvermittelt in die Augen. Millie sprang auf und nahm sie spontan in den Arm.
»He, Süße, nicht traurig sein. Wir werden alle Rätsel lösen und alle Schurken enttarnen.«
Lea stieß ein Geräusch zwischen Lachen und Weinen hervor.
»Alle müssen es ja gar nicht sein. Ein wenig Klarheit würde mir schon reichen.« Sie starrte die Pappschachtel an.
Millie setzte sich wieder und stieß mit dem Finger dagegen.
»Und, meinst du, darin stecken ein paar Antworten?«
Lea zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Die Briefe sind ja sehr viel älter … Ich weiß nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte. Allerdings hat Claire auch einmal in dem Haus gelebt, in dem sie gefunden wurden, und ihre Vorfahren …«
»Deine Vorfahren dann ja wohl auch. Darf ich noch mal?«
»Natürlich. Tom hat mir übrigens erzählt, dass man das Haus früher das traurige Haus nannte, wahlweise auch das Haus der Schwestern.«
»Welche Schwestern?« Millie runzelte die Stirn, während sie den obersten Brief herausnahm und behutsam untersuchte. »Du sagst also, die Briefe sind von einer Frau und etwa zweihundert Jahre alt. Hast du eine Ahnung, an wen sie geschrieben wurden? Ich meine, G. ist nun nicht sehr aussagekräftig.«
»Ich würde sagen, an einen Geliebten.«
»… oder eine Geliebte.«
»Möglich.«
»Wegen des G?«
»Nein, ich glaube, das G steht für einen Namen.«
Lea ließ die Verschlüsse ihrer Handtasche aufspringen, nahm ein Foto heraus und hielt es Millie hin.
»Schau mal, das ist Claire mit achtzehn Jahren. Das Bild lag in einem alten Küchenbuffet. Herr Wieland hat es erkannt. Sein Bruder hat wohl einmal versucht, es zu stehlen. Bei einer Mutprobe oder so.«
Millie musterte das
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