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Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Martin
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Foto aufmerksam. »Sie ist eigentlich ganz hübsch, deine Claire. Ein bisschen sehr ernst und etwas schüchtern, aber das liegt wohl in der Familie.« Sie zwinkerte Lea zu. »Und wie sieht sie heute aus?«
    »Na ja, immer noch recht gut … Allerdings ist sie natürlich weit über achtzig.« Lea wollte sich Tee nachschenken, stellte fest, dass die Kanne leer war, und bestellte sich eine neue.
    »Nein, das meine ich nicht. Schau dir mal ihr Gesicht an. Das hier ist ein junges, naives Mädchen, das die Welt noch nicht kennengelernt hat. So sieht sie, mal abgesehen vom Alter, nicht mehr aus, oder?«
    »Äh … nein …« Lea schaute das Foto an. Sie hat recht, dachte sie, Claire sieht sogar vollkommen anders aus. Was ist nur passiert in den Jahren, die zwischen der Claire auf dem Bild und der, die ich kenne, liegen?

Z weites Kapitel
    Ich habe meine Mutter angeschrien. Zum ersten Mal in meinem Leben.
    Stocksteif saß Rike an ihrem Wohnzimmertisch und starrte den Umschlag an, den Claire ihr überlassen hatte.
    Sie war überrascht gewesen, als es am frühen Vormittag an der Tür geklingelt hatte. Als sie auf den Balkon getreten war, hatte sie das Taxi wegfahren sehen, dann erst hatte sie Claire entdeckt. Rikes erster Impuls war gewesen, nicht zu öffnen.
    Ich bin noch nicht bereit, dachte sie, ich will sie noch nicht sehen.
    Sie hatte in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht, warum ihre Mutter zuerst die Enkelin aufgesucht hat und nicht sie. War ihr die eigene Tochter wieder einmal weniger wichtig gewesen? Sollte Rike den Worten ihrer Großmutter glauben?
    »Deine Mutter, diese infame Person, mein liebes Kind, der warst du vollkommen gleichgültig.« Auch nach so vielen Jahren konnte sie die Stimme Nora Neubergers deutlich hören.
    Dann hatte es geklingelt. Mehr mechanisch hatte Rike den Türsummer betätigt. Wenig später stand Claire vor der Tür. Obwohl sie Mutter und Tochter waren, verhielten sie sich wie Fremde.
    Wir sind Fremde. Ich habe meine Mutter seit meiner frühesten Kindheit weder gesehen noch gesprochen.
    »Kommen Sie doch herein«, sagte sie steif, und Claire folgte ihrer Aufforderung. Rike bemerkte, dass sie einen eleganten Hosenanzug trug, eine modische Tasche über der Schulter, und dass ihr Haar zu einem Dutt aufgesteckt und vollkommen weiß war.
    In der Küche angekommen, standen sie einander schweigend gegenüber und musterten sich etwas verstohlen. Dann sah Claire sich rasch um.
    Was sieht sie hier?, fragte Rike sich, eine zu unordentliche, zu kleine Wohnung. Claire kannte ja nur das herrschaftliche Haus in Frankfurt, in dem sie und auch ihre Tochter einen Teil ihres Lebens verbracht hatten. Das Haus, das Rike an ihrem 21. Geburtstag verlassen hatte, um sich endlich frei zu fühlen.
    »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
    »Mach dir keine Umstände … Ich darf doch du sagen, oder?«
    Claire sah sie fragend an.
    Nein, wollte Rike ihr entgegenschleudern, wir kennen uns nicht. Zwischen uns gibt es keine Gemeinsamkeit. Doch stattdessen zuckte sie nur mit den Achseln.
    Das Gespräch kam schleppend in Gang. Um irgendetwas zu tun, schenkte Rike sich und ihrer Mutter eine Tasse Chai ein. Dabei überschlugen sich ihre Gedanken. Aber sie brachte es nicht über sich, einen davon auszusprechen. So viele Jahre hatte sie so viele Fragen stellen wollen, und jetzt? In gewisser Weise hatte sie sich sogar ausgemalt, die Mutter sei tot. Das war ihr lieber gewesen als eine Frau, die sich offenbar so wenig für sie interessierte, dass sie keinen Kontakt aufnahm.
    »Warum hast du mich verlassen?«, platzte sie irgendwann heraus. »Warum hast du mich bei dieser Frau gelassen?«
    Claire wusste offenbar, um wen es sich bei dieser Frau handelte, denn sie fragte nicht nach.
    »Ich konnte nicht anders«, sagte sie nur sehr leise.
    »Du konntest nicht anders?« Rike zitterte plötzlich am ganzen Leib. »Du konntest nicht anders?«, schrie sie im nächsten Moment, und auch ihre Stimme zitterte. »Du konntest nicht anders, als dein Kind zu verlassen? War das die einfachste Lösung?«
    Claire sah sie an. »Nein«, murmelte sie endlich. »Es war nicht die einfachste Lösung, aber manchmal werden wir zu Dingen gezwungen. Manchmal haben wir unser eigenes Leben nicht im Griff. Ich war sehr jung, ich habe Fehler gemacht. Sie haben gesagt, ich könnte nicht für dich sorgen. Sie haben gesagt, ich sei eine Gefahr für dich, und ich …« Sie hatte die Hände nach ihrer Tochter ausgestreckt. »Ich wollte dich doch nachholen.

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