Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Entscheidung anzweifeln würde.
Marianne wandte sich wieder ihrem Bogen Papier zu.
»An wen schreibst du?«, fragte Helene nach einer Weile.
Die Ältere legte die flache Rechte auf den Brief und sah über ihre Schulter zur Schwester hin.
»Ihm schreibe ich«, sagte sie leise, zog dann ihre Schublade an dem gemeinsamen eleganten Damenschreibtisch heraus und wies auf ein weiteres Bündel Briefe. »Ich habe ihm jeden Abend geschrieben, seit wir voneinander getrennt wurden. Ich schreibe ihm und weiß doch, dass er diese Briefe niemals erhalten wird.« Sie sah jetzt müde aus. »Genauso, wie er sein Kind nie sehen wird.«
Sachte legte sie beide Hände auf ihren gerundeten Leib. Helene unterdrückte ein Zittern.
»Es tut mir leid, Marianne. Mir tut so leid, was ich getan habe.«
Während sie sprach, ließ Helene die Schwester nicht aus den Augen. Es fühlte sich richtig an, das zu sagen.
Marianne schwieg.
»Es tut mir leid, Mimi«, wiederholte Helene noch einmal. Sie vergrub die Hände in ihrem Rock. »Ich wollte das wirklich nicht.«
Du lügst, wisperte eine kleine Stimme in ihrem Kopf.
Marianne rückte den Stuhl zu ihr herum und musterte die Jüngere eine Weile, dann schenkte sie ihr ein kleines, weiches Lächeln.
»Ich weiß«, sagte sie sanft und streckte die Arme zu Helene hin. Die zögerte einen kaum wahrnehmbaren Moment, bevor sie sich in Mariannes Umarmung stürzte. Leise begann sie zu schluchzen.
Marianne strich ihr über das Haar. »Ach, ich weiß doch gar nicht, ob ich anders gehandelt hätte, Lele. Wenn er sich dir zugewandt hätte und nicht mir. Ach Gott, ich weiß nicht, was ich getan hätte.« Sie drückte die Schwester von sich weg und blickte ihr ins Gesicht. »Du liebst ihn wirklich, nicht wahr? Ach, lieber Gott, was haben wir einander nur angetan?«
D rittes Kapitel
Ein dünner Streifen Licht fiel durch eine Lücke zwischen den Brettern des Holzverschlages zu Gianluca herein. Sehr spät am gestrigen Abend hatte er diesen Unterschlupf gefunden, todmüde von der Flucht, hungrig und vollkommen durchnässt vom Regen. Er hatte wach bleiben wollen, doch das war ihm nicht gelungen. Jetzt waren draußen Stimmen zu hören, deutsche Stimmen.
Gianluca war sofort hellwach. Gut vier Wochen musste es wohl her sein, dass er überhastet und auf Mariannes Flehen hin die Flucht ergriffen hatte.
Er rieb sich kurz mit beiden Händen über das Gesicht. Wie lange hatte er wohl geschlafen? Es war bereits dunkel gewesen, als er eingenickt war, daran erinnerte er sich gut. Dunkel war es gewesen, kalt und nass. Er hatte versucht, sich wach zu halten, doch es war ihm offenbar nicht gelungen. Die Flucht vor den Franzosen hatte ihn doch zu sehr erschöpft.
Einem versprengten Grüppchen von ihnen war er schon wenige Tage nachdem er Bonnheim verlassen hatte, in die Arme gelaufen. Er hatte nicht erwartet, noch französische Soldaten in der Gegend zu finden. Vielleicht war das unvorsichtig gewesen, aber es hieß doch, dass sie sich spätestens seit Beginn der Belagerung von Mainz im April überall in wilder Flucht befänden.
Leider war das ein Irrtum gewesen. Eine kurze Strecke von Bonnheim entfernt war er von einem französischen Häuflein aufgegriffen worden, als er sich gerade in einer kleinen Kapelle hatte verstecken wollen. Zuerst hatte er geglaubt, dass sie ihn bald wieder gehen ließen, dass sie verstanden, dass er hier ein Fremder war wie sie selbst, dass er sich zurück auf den Weg zu Marianne machen konnte, aber nichts dergleichen: Die Franzosen, ein ehemaliger Vortrupp wohl, hatten ihn peinlich genau bewacht. Er konnte sich noch nicht einmal alleine erleichtern.
»Bist du ein Spion?«, war er während seiner Gefangenschaft bei ihnen immer wieder gefragt worden. »Bist du ein Spion?«
Und immer wieder hatte er den Kopf geschüttelt, hatte versucht, sie davon zu überzeugen, dass er sie nicht verraten würde. Aber was sollte er sagen? Ich bin selbst auf der Flucht? Ich habe einen Mann getötet, ich würde euch niemals verraten? Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass sie ihn als unliebsamen Zeugen nicht an Ort und Stelle beseitigten. Gianlucas Fantasie schlug in den Tagen der Gefangenschaft wilde Kapriolen.
Die Franzosen hatten es natürlich selbst darauf angelegt, nicht entdeckt zu werden. Oft war Gianluca geknebelt worden, damit er nicht auf sich aufmerksam machen konnte, aber das hätte er ja ohnehin niemals getan. Vom Ort seiner Gefangennahme aus ging es weiter nach Osten, dann ein wenig nach Norden.
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