Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Schritt um Schritt, näherte sie sich dem Türspalt und spähte hindurch.
Ein Rascheln war zu hören, dann Schritte, die sich allerdings von der Tür entfernten. Die Mutter war nicht zu sehen. Der Vater stand wohl links neben der Tür, wenn sie sein Brummeln nicht täuschte. Marianne hatte sich vor dem Fenster postiert. Das morgendliche Sonnenlicht umstrahlte ihre Gestalt geradezu und ließ das Haar, das sie noch offen trug, aufflammen. Stolz und aufrecht stand sie da, während das Nachthemd ihre Figur umspielte und keinen Zweifel mehr an ihrem Zustand ließ.
Daher wissen sie es also, schoss es Helene durch den Kopf, weil es nicht mehr zu übersehen ist.
»Warum hast du das getan?«, war wieder die Stimme ihrer Mutter zu hören. »Die Leute werden reden. Warum hast du diesen Fremden …«
»Dieser Fremde hat einen Namen«, fuhr Marianne dazwischen. »Gianluca heißt er, und fremd war er mir nicht mehr. Ihr seid mir fremd, und dabei dachte ich, euch zu kennen.«
»Aber Kind, was redest du denn da für einen Unfug?«, entgegnete die Mutter. »Und wer soll denn jetzt noch bei deinem Vater Wein kaufen? Hast du dir das einmal überlegt?«
Helene sah, wie Marianne den Kopf zurückwarf. »Aber sie werden Wein kaufen«, rief sie verächtlich aus. »Sie können es ja sicherlich kaum erwarten, einen Blick auf das unbotmäßige Töchterlein zu werfen.«
Kaum hatte sie die letzte Silbe gesprochen, da ließ auch schon die Ohrfeige des Vaters ihren Kopf zur Seite fliegen. Hinter der Tür fuhr Helene zusammen und presste sich mit der Hand den Schreckenslaut zurück in die Kehle. Der Vater hatte Marianne noch nie geschlagen, niemals.
»So redest du nicht mit uns, mein Fräulein, so nicht«, brüllte Valentin im nächsten Moment.
Marianne verschränkte die Arme vor der Brust. Sie zit terte, gab aber keinen Laut von sich.
»Wenn es recht ist«, sagte sie nach einigen Atemzügen, »werde ich mich jetzt in mein Zimmer zurückziehen.«
»Und dort wirst du auch bleiben«, entgegnete der Vater scharf, »bis ich eine Entscheidung getroffen habe.«
Helene zögerte den Moment hinaus, an dem sie an diesem Abend ihr gemeinsames Zimmer betrat. Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher, dass Marianne ihr Lauschen mitbekommen hatte. In letzter Zeit war es ihr wieder einmal schwergefallen, auch nur Kleinigkeiten vor der Älteren zu verbergen. Es war, als sei Marianne mit ihrer Schwangerschaft aufmerksamer geworden. Einen Moment lang legte Helene die rechte Hand auf den Türknauf und verharrte. Drinnen waren Schritte zu hören, dann raschelte es.
Als Helene das Zimmer betrat, saß Marianne am Frisiertisch, ein Blatt Papier vor sich, die Schreibfeder in der Hand. Sie zuckte zusammen, als sie Helene bemerkte. Die Jüngere zog die Tür rasch hinter sich zu.
»Wie geht es dir?«, fragte sie leise anstelle einer Begrüßung und musterte suchend Mariannes Gesicht.
»Du hast gelauscht«, erwiderte die. Es lag keine Frage in ihrem Tonfall. Sie wusste es einfach.
Helene hob entschuldigend die Schultern, lief zu ihrem Bett und ließ sich darauf nieder.
»Ihr wart sehr laut«, murmelte sie und dachte im gleichen Moment, dass dies die ersten wirklich ruhigen Worte seit dem Unfall waren, die sie beide miteinander wechselten.
»Ja, das waren wir wohl.« Marianne schaute sie nachdenklich an, während sie die Schreibfeder langsam in der Hand drehte. »Ist das ein Grund zu lauschen?«, fügte sie dann in einem beinahe neckenden Tonfall hinzu, und doch blieb etwas Trauriges in ihrer Stimme, das Marianne bislang völlig fremd gewesen war.
Helene schüttelte den Kopf.
»Sie sind wütend«, stellte sie endlich fest, nur um wenigstens etwas zu sagen.
Marianne nickte. »Aber ich habe nichts Falsches getan«, beharrte sie leise. »Ich habe nichts getan, als zu lieben. Das kann doch nicht falsch sein, oder?«
Vorübergehend musste Helene den Schmerz bekämpfen, den das Wort Liebe bei ihr auslöste. Aber jetzt waren sie beide ja in der gleichen Lage, jetzt würden sie Gianluca beide nicht bekommen. Das machte es so viel leichter. Sie atmete tief durch, strich dann mit der flachen Hand ihre Bettdecke glatt.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie leise. »So habe ich nie darüber nachgedacht.«
Sie starrte die Decke weiter an, weil sie einfach nicht wusste, wo sie sonst hinschauen sollte. Sie war immer davon ausgegangen, dass die Eltern ihre Entscheidungen trafen und dass diese gut waren. Sie hatte niemals daran geglaubt, dass sie einmal eine solche
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