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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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beschlossen. Der Bediente des kranken Offiziers hatte eine gute Quelle in der Gegend entdeckt und verriet sie meiner Frau. Da mit meiner Krankheit der quälendste Durst verbunden war, so bat ich meine Frau, mich doch vor meinem Ende noch genug trinken zu lassen; dann wollte ich gerne sterben. Wer den Durst kennt, diese schrecklichste aller Qualen, die weit ärger ist als der Hunger, der wird mir diesen Wunsch verzeihen. Uns Diarrhöekranken war das Trinken von den Ärzten strengstens untersagt worden, zumal es kein anderes Wasser als das aus der Düna oder aus den Sümpfen gab. Meine Frau erhörte meine Bitte und brachte mir zwei Flaschen von dem guten Quellwasser. Sie erlaubte mir, ein paar Schluck zu trinken. Aber sobald ich die Flasche zwischen den Zähnen hatte, ließ ich sie nicht wieder los, bis sie gänzlich geleert war. Unbeschreiblich ist das Wonnegefühl, das mich mit diesem Wasser durchströmte. ›So‹, rief ich aus, indem ich meiner jammernden Frau die Flasche zurückgab, ›nun bin ich satt! Nun mag der Tod kommen!‹ Aber er kam nicht. Das gute Wasser wirkte wie ein Heilmittel, die Diarrhöe wurde immer seltener. Nun gewann ich wieder neuen Lebensmut. Sobald sich der Durst wieder einstellte, trank ich auch die zweite Flasche rein aus. Die Diarrhoe wich allmählich gänzlich. Ich fühlte mich wie neu geboren.«
    Im November wurde Schrafel mit einem Auftrag nach Kobylnik geschickt. »Es war eine mondhelle Nacht, und die Kälte war gar schrecklich. Indem ich in meinem zerrissenen Mantel, das Gewehr auf dem Rücken, über die unabsehbare Schneeflur hinschritt, um die Hauptstraße zu gewinnen, stieß ich an etwas und stolperte. Ich besah mir den Gegenstand näher. Ein Toter lag halbbedeckt im Schnee. Da es noch dämmerig war, so konnte ich ihn nicht recht unterscheiden. Als ich mich nun weiter umschaute fiel mein Blick überall auf Tote. Die feierliche Stille der Nacht, das blasse Dämmerlicht des Mondes, die entsetzliche Kälte, das unermeßliche Schneemeer ringsumher, übersät mit martervollen Verstorbenen und ich der einzige Lebende auf diesem unabsehbaren Kirchhof – dies alles machte einen solchen Eindruck auf mich, daß mir ein Schauer durch die Gebeine rieselte. Ich eilte vorwärts, ohne mich weiter umzusehen, aber schwermütige Gedanken drückten meine Seele. – Als ich tags darauf abgelöst worden war, kam ich den Weg wieder zurück. Nun erst konnte ich alle Gegenstände deutlich unterscheiden. Ich war an Szenen schauderhaftesten Elends gewöhnt. Aber hier kam auch mir das Entsetzen. Ein immer schrecklicherer Anblick bot sich dem Auge dar. Über allen Ausdruck gräßlich und jammervoll waren die Feuerstellen, um die sich die Soldaten gelagert hatten. Schon halb wahnsinnig und bewußtlos vor Kälte, waren sie dem Feuer immer näher und näher gerückt. Sie sahen nicht, sie fühlten nicht den Brand, der sie ergriff, und während ihre abgestorbenen Füße schon verzehrt waren, rückten sie immer noch näher und suchten nach Wärme. So sah man die Unglücklichen bei den längst verloschenen Aschenhaufen mit abgebrannten Füßen liegen. Überdies waren sie fast aller ihrer Kleider beraubt; denn jeder, der noch einiges Leben in sich fühlte, riß den Toten oder Sterbenden die letzte Bedeckung vom Leibe, um sich zu erwärmen und vielleicht noch eine halbe Stunde länger zu leben. Das Herz erstarrt vor solchem Greuel.
    Ich traf wieder auf den Leichnam, über den ich auf dem Hinweg gestrauchelt war. Der Anblick erfüllte mich mit Schauder. Seine beiden Hände hielt er krampfhaft geballt am Kopfe, als wollte er sich die Haare ausraufen. Ein unbeschreiblicher Jammerausdruck lag auf seinem verwilderten Antlitz. Man sah, er war in Verzweiflung gestorben. Ich wendete mich mit Grausen von ihm und schritt meines Weges.« Kurz darauf geriet Schrafel in Gefangenschaft.
    Das 20 000 Soldaten zählende sächsische Kontingent bildete das 7. Armeekorps, das im Raum Bialystok operierte, ihm zur Seite das 30 000 Soldaten starke österreichische Hilfskorps. Ihnen gegenüber befand sich die 3. West-Armee unter General Tormassow mit 40 000 Soldaten. Doch die leichte Überlegenheit brachte den Einheiten der Grande Armée keinen Vorteil. Ein genauer und kenntnisreicher Beobachter des sächsischen Korps war Generalleutnant Ferdinand von Funck, Kommandeur der 21. Division. Es trug zu seinem Unglück bei, daß er sich mit seinem Chef, dem französischen General Reynier, überhaupt nicht verstand und sich selber für den

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