Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
erbärmlichem Zustand: »In unserm Aufzuge glichen wir mehr einer Herde zerlumpter Bettler als Soldaten. Die Mäntel waren auf den Biwaks verfault, die meisten hatten sie bis an die Hüften abgeschnitten und trugen sie nun wie Spenzer. Nur wenige hatten noch ganze Hosen, viele bloß noch die Leinwandbeinkleider, und diese zum Teil so zerrissen, daß überall das Fleisch heraussah. Noch schlimmer sah es um Schuhe, Gamaschen und Strümpfe aus,und es ist nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß bei jedem Bataillon 30–40 Mann barfuß gingen. Alle Vorstellungen über diesen Punkt blieben unbeachtet, sie konnten auch jetzt nicht mehr helfen, denn die Wagen, auf denen diese schon seit dem 1. Mai fällig gewesenen Stücke nachgefahren wurden, waren über Bialystok geschickt worden und konnten uns freilich jetzt nicht erreichen. Im Mai und Juni war Zeit genug gewesen, die Sachen auszugeben, aber der Geiz der Intendanz ließ es nicht zu. Ein Teil davon fiel nachher den Kosaken in die Hände, und als der Rest uns in Wolhynien erreichte, fand man ihn auf den Wagen verfault und unbrauchbar.«
Zum Bericht des Generalleutnants lassen sich die Erinnerungen des einfachen sächsischen Husaren Goethe ergänzen. Er gehörte nicht zu Funcks Division, sondern zur 23. Leichten Kavallerie-Brigade, und das bei Kriegsbeginn 2028 Husaren zählende Regiment hatte wie alle Einheiten schon ziemliche Verluste hinnehmen müssen. »Da das zur Avantgarde gehörige Husarenregiment seine Marschrichtung nach den Bewegungen des Feindes anpassen und sie öfters verändern musste, mithin heute nicht wissen konnte, wo es morgen sein Nachtlager halten würde, so war eine regelmäßige Verpflegung aus Magazinen oder von dem Hauptkorps nachgefahrenen Proviantvorräten nicht wohl ausführbar«, schreibt Theodor Goethe. »Es blieb daher auch den andern bei der Avantgarde befindlichen Truppenteilen lediglich überlassen, für ihre Verpflegung soviel wie möglich selbst zu sorgen. Da nun die Gegenden, die wir durchzogen, wenig bevölkert waren, mithin die Orte sehr weit auseinander lagen, so daß wir manchmal mehrere Stunden reiten mußten, ehe wir ein elendes Dorf erblickten, dessen Bewohner aber, wie es oft geschah, noch vor unserer Ankunft mit ihren wenigen Vorräten und dem Vieh sich schon in die Wälder geflüchtet hatten, so sah es um unsere Verpflegung sehr mißlich aus. Doch mußten wir immer noch froh sein, in diesen armseligen Hütten für dieNacht ein Obdach zu finden und unsern Pferden etwas zusammengesuchtes Stroh und Heu vorlegen zu können. Noch schlimmer war es, wenn wir bei Anbruch der Nacht kein Dorf mehr erreichen konnten, mithin uns, wenn die Dunkelheit eingetreten war, gleich auf der Stelle lagern mußten, wo haltgemacht wurde. Denn hier hatten wir weder Obdach noch Lebensmittel, auch mußten wir uns, da es an dürrem Holze fehlte, oft ohne Feuer behelfen und auf dem feuchten, mitunter auch von Regen ganz durchnäßten Boden ohne Lagerstroh hinstrecken. Sehr zu bedauern waren unsere Pferde, die den ganzen Tag über, mit dem Reiter auf dem Rücken, sich hatten herumhetzen lassen müssen. Diese armen Tiere standen dann auch in ihrer Ermattung oft mit niedergesenkten Köpfen da und schauten uns traurig an, was recht peinlich war, da wir ihnen das wohlverdiente Futter nicht reichen konnten.«
Im allgemeinen wurden die Bewegungen der feindlichen Truppen von den Bauern genau beobachtet, galt es doch, wenigstens das Vieh rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Theodor Goethe berichtet von einem kuriosen Zwischenfall am 26. Juli: »Nachdem wir einige Stunden geritten waren, hörten wir in einiger Entfernung vor uns einen gewaltigen Lärm, wobei wir ein verworrenes Getöse von Menschenstimmen und Gesang, dazwischen auch die gellenden Töne eines Dudelsacks unterscheiden konnten, eines musikalischen Instrumentes, das in Rußland und Polen sehr beliebt ist, unseren Ohren aber nicht sonderlich behagen will. Wir machten daher gleich halt und schickten eine Patrouille ab, die erforschen sollte, was dieser Lärm bedeute. Nach ihrer Rückkehr erfuhren wir, daß in dem vor uns liegenden Dorfe eine Bauernhochzeit mit Gesang und Tanz gefeiert werde, wobei es denn in Rußland sehr lärmend herzugehen pflegt, da der Wodka, wie dort der Branntwein benannt wird, bei solchen Festlichkeiten eine große Rolle spielt und so stark genossen wird, daß die Hochzeitsgäste sich immer in einem holden Taumel befinden. Wir ritten nun wieder vorwärts, fanden aber, im
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