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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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wir trotz aller Müdigkeit weiterziehen mußten, und das zu unserem Glücke, denn bald darauf entdeckte ich ein kleines, einzeln stehendes Häuschen, wohin sich wegen der Kosaken und feindlich gesinnten Bauern noch niemand gewagt hatte. Die Verzweiflung trieb uns dahin, und wir hatten es nicht zu bereuen; die Bewohner nahmen uns etwas mißtrauisch, doch freundlich auf,beeilten sich, uns das Essen zuzubereiten und selbst für unsere Pferde zu sorgen. In der geheizten Stube wurde uns ein Strohlager zugerichtet, die alte wackere Hausfrau überraschte uns mit Sauerkraut und geräuchertem Fleische auf einer großen hölzernen Platte; so schmutzig und häßlich die Frau war, hätte ich vor Entzücken ihr um den Hals fallen mögen! Der Mann sah uns den Heißhunger an, er wollte im Wohltun nicht zurückstehen und reichte uns Brot dazu; wir baten um Wasser zum Trinken, diese guten Leute brachten uns aber Rotrübensaft, der süßlich schmeckte, doch recht erquickend war. Der Alte gab uns zu verstehen, daß er Organist des Dorfes sei.«
    »6. Dezember. Schon um 5 Uhr morgens wurden wir von unseren Hausleuten, die, wie es schien, keine Kinder hatten, geweckt; der Organist gab uns zu verstehen, daß bald Kosaken kommen und uns spießen würden, wenn wir nicht beizeiten weiterziehen; sie gaben uns noch etwas Brot mit auf den Weg, wiewohl der Mann sehr sparsam damit umging; tief gerührt von dem Mitleid dieser braven Leute, eilten wir der Heerstraße zu, aber von der warmen Stube plötzlich in die erstarrende Kälte versetzt, befanden wir uns bald nach dieser guten Pflege in der traurigsten Lage; das Blut trat zum Herzen zurück, und bald hatte ich kein Gefühl mehr an Händen und Füßen; beim ersten Halt an der Heerstraße rieb ich mir die erfrorene Nase und Hände mit Schnee ein, allein das Gefühl kehrte nicht zurück, und ich befand mich in großer Besorgnis, Wilna nicht mehr erreichen zu können. Die grimmige Kälte hatte heute wohl den höchsten Grad erreicht, und schrecklich waren die vielen Opfer dieses Tages, welche ihr und dem Hunger anheimfielen; so viele Tausende erlagen noch in dem Augenblick, wo sie Rettung zu finden hofften. Es war wohl nicht mehr möglich, unter freiem Himmel zu übernachten, und da auf der Straße selten ein Obdach zu finden war, so zerstreute sich in diesen Tagen die zerrüttete Armee zu beiden Seiten derselben; nur in den Vormittagsstunden, wo Kosaken-Angriffe am öftesten vorkamen, bewegte sich allesdicht gedrängt auf der Straße fort. Bei diesem Grad von Kälte waren auch die Operationen der Russen gelähmt; die Kosaken bedurften des Nachts eines schützenden Obdaches, welcher Umstand uns vor nächtlicher Verfolgung oder Überrumpelung schützte.
    Wie an allen diesen Tagen verließen wir auch heute nachmittags die Straße und konnten gegen Abend in einem nicht sehr entfernten Dorfe nur einen offenen kalten Stall beziehen. Meine Lage war hier höchst traurig, die erfrorenen Glieder schmerzten mich immer mehr, und gegen den eiskalten Wind konnten wir nur spärlich Schutz erhalten.«
    An diesem 6. Dezember gibt der westphälische Oberleutnant Friedrich Gieße in Smorgonie in seinen Aufzeichnungen ein Bild vom Zustand der Soldaten, die, unterernährt und unzureichend gekleidet, den eisigen Temperaturen und dem schneidenden Wind kaum noch gewachsen sind: »Am 6. allerfrühst, nicht weit noch gegangen, vermißte ich in höchster Erregung meine Pelzmütze, in der ich des Nachts eine so unentbehrlich warme Kopfbedeckung besaß, wenn ich des Tages über meinen Tschako getragen hatte. Bei diesem Wechsel hatte ich sie heute morgen vergeßlicherweise am Lagerfeuer liegengelassen. Ihr Verlust bei der heute wieder kräftiger hervortretenden Kälte schmerzte mich mehr, denn der meines ganzen Gepäcks am 15. November. Worüber ich aber vor mir selber erschrak, war die Wahrnehmung, daß eine derartige Vergeßlichkeit, wie sie verschiedentlich seit kurzem bei mir schon vorgekommen, rein eine Folge von Stumpfheit und Zerrüttung meiner Leibes- und Geisteskräfte sei, und ich schauderte vor den Folgen, die dieses für mich noch werde haben können! Bei Tausenden in der Armee war bereits eine solche Geistesschwäche bis zum höchsten Gipfel gestiegen und erwies sich bei jedem einzelnen auf absonderliche Weise. Überhaupt sah man Szenen, die keine Feder zu schildern vermag! Die ganze Heermasse war ohne Waffen und ihr Aufzug der abenteuerlichste und bizarrste, den menschliche Phantasieje ersann. Die allermeisten,

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