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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eckart Klessmann
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Glühwein«.
    Neben dem Schauspielhaus ließ tagsüber Joachim Murat, »der einen grünen türkischen Kaftan anhatte, einen Turban mit einer Reiherfeder daran auf dem Kopfe und grüne Stiefel an den Beinen trug«, die lippische Infanterie zur Musterung antreten, die ihn so schon in Wirballen hoch zu Roß gesehenhatte. Doch die Lipper waren dezimiert. Von der ursprünglichen Anzahl Soldaten hatte das Bataillon zwischen Kowno und Königsberg weit über 100 Mann verloren: getötet, gefangen, erfroren. Das Verhältnis zwischen ihnen und den Franzosen war nach wie vor gespannt. Und schon bald kam es zwischen den Lippern und den Franzosen, von denen sich inzwischen etwa 10 000 wieder eingefunden hatten, erneut zum Streit, wobei ein lippischer Tambour erstochen, einem anderen Soldaten einige Finger abgehauen wurden. »Die Franzosen schienen den deutschen Soldaten nicht recht mehr zu trauen, und die gegenseitige Erbitterung war so groß, daß, wenn sie sich abends auf den Straßen begegneten, sehr oft Angriffe auf Leben und Tod vorfielen.« Da es zu den Pflichten der Lipper gehörte, nachts auch auf Streife zu gehen, wußte Dornheim, wovon er sprach. Eines Tages kam es in einem Bordell zu einer fürchterlichen Schlägerei, offenbar weil der Kunden zu viele, der Mädchen aber zu wenige waren. »Keine Patrouille, keine Wache konnte steuern«, schreibt Dornheim, »weshalb auf Befehl des Gouverneurs ein Artillerie-Offizier mit einigen Kanonen abgesandt wurde, der das besagte Haus beschießen mußte, um die Ruhestörer zu verscheuchen.« Wie viele französische und lippische Soldaten bei dieser rabiaten Schlichtung getötet oder verletzt wurden, erfahren wir nicht.
    Die Spannungen milderten sich erst, als das Bataillon Lippe einen neuen Kommandeur erhielt: »Wir schlossen uns um so mehr an unsere Bundesgenossen, die Franzosen, wieder an, da der französische Brigadegeneral Devilliers, der das Kommando über uns erhielt, vermöge seines militärischen Liberalismus es so meisterhaft verstand, die früheren freundschaftlichen Verhältnisse wiederherzustellen und die französischen Interessen mit den unsrigen zu verweben. Dieser aus dem Sansculotten-Stande entsprossene General, der die moderne Philosophie der Franzosen auf eine vernünftige Weise eingesogen hatte, kommandierte uns von jetzt bis zur Beendigung der Belagerungvon Danzig und wurde gerade jener Spezialität wegen stets von uns geehrt und geliebt.«
    Ende Dezember verließ das Bataillon Lippe Königsberg, um die Verteidigung der Festung Danzig zu übernehmen. Auch Stendhal zog weiter. »Ich habe mich durch meine Willenskraft gerettet; totale Entkräftung und Tod habe ich oft aus allernächster Nähe gesehen«, schrieb er am 28. Dezember seiner Schwester Pauline. Kurz darauf, beim Überqueren des zugefrorenen Frischen Haffs, brach das Eis unter seinem Schlitten, Stendhal entging nur knapp dem Tod.
    Die Aufzeichnungen des lippischen Feldwebels Dornheim sind die Erinnerungen eines Mannes, dem die eigentlichen Strapazen dieses Feldzugs erspart geblieben sind. In der Zeit ihres Marsches nach Kowno und wieder zurück nach Danzig war sein Bataillon immer gut gekleidet und meist auch gut verpflegt, und man vergißt darüber leicht, in welch katastrophalem Zustand sich große Teile der Grande Armée nach wie vor befanden. Der Militärchirurg Ferdinand Christoph Neuhaus vom 1. Infanterie-Regiment des Großherzogtums Berg gibt in seinem Tagebuch diesen erschütternden Bericht:
    »Marienburg, den 27. Dezember 1812. – Ein schreckliches Bild der Verwüstung haben wir seit 8 Tagen, am schrecklichsten seit den letzten 4 Tagen gehabt; und noch ist es hier so voll, daß z. B. diese Nacht 200 Divisions- und andere Generale, zwischen 900–1000 andere Offiziers und viele tausend Gemeine übernachteten. Die Einwohner mußten aus den Häusern, und in den Kellern liegen 7–8 Offiziere zusammen, und die Straßen sind so gepfropft voll Menschen und Pferde, und mein Gott –! in welchem Zustande? – Nicht ein Gesunder. Die Offiziers vom ersten Range sind nicht von den Knechten zu unterscheiden; sie flehen und wimmern um einen Platz am Ofen, ein Bett ist eine unerhörte Wohltat. Viele Sterbende sind darunter, die weitermüssen, und in der grimmigen Kälte! – Die meisten sind beinahe ganz erfroren, und von allen, die hier durchpassiert sind, haben nur wenige einen Körper, dernicht erfrorene Teile hat. Zu 4–6 Offizieren waren in einen Schlitten gepackt, welchen man wegen Fäulnis die

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