Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
solche halten, die bei Gründung des Königreichs Westphalen mit einer damals von Preußen abgetretenen Provinz seien mit abgegeben worden, und uns jetzt noch als Landsleute betrachten. Diesen Irrtum nahm ich für eine gute Vorbedeutung bei unseren ferneren Märschen durch das preußische Territorium an und betrog mich darin nicht. Ja, in manchen Orten wurden wir sogar wegen unserer dunkelblauen, weißumgrenzten Kokarde, die der preußischen schwarz und weißen so ähnlich sah, für preußische Offiziere vom Yorckschen Korps gehalten und sehr gastfrei aufgenommen, während Franzosen, unsere Waffengenossen, oft mißhandelt wurden.« Generalmajor Wilhelm von Hochberg fand sich in Insterburg von einer Gesellschaftzum Glühwein eingeladen, »um Näheres von dem Untergang der großen Armee zu hören«. Er selber hatte von dem von ihm kommandierten badischen Kontingent nur noch 537 Soldaten mit 71 Pferden zur Verfügung, als sich in Königsberg die Versprengten gesammelt hatten.
Chefchirurg Jean-Dominique Larrey war am Morgen des 22. Dezember in Königsberg angekommen: »Ich führte das einzige mir übriggebliebene Pferd am Zügel. Ohne Zweifel verdankte ich seine Erhaltung nur der nützlichen Vorsicht, es vor der Abreise aus Insterburg scharf beschlagen zu lassen. Gleich den Tag darauf eilte ich, so schwach ich war, mit dem ersten Arzte Gilbert alle Spitäler zu besuchen. Ich gab den Wundärzten Verordnungen für den Verband der brandigen, von Erfrieren herrührenden Zufälle und verteilte auf die Spitäler alle Gesundheitsbeamten, die ich von der Armee zurückgebracht hatte. Endlich stattete ich dem Oberintendanten über diese Untersuchung Bericht ab und bat bei dieser Behörde, Maßregeln zur Verbesserung der Lazarette zu nehmen. Die Zahl der Kranken und Verwundeten, die in dieser Stadt, welche der allgemeine Sammelplatz der Großen Armee war, vereinigt waren, belief sich auf 10 000 Mann. Die Spitäler waren vollgepfropft, viele Soldaten lagen in den Häusern. (…) Den 23. aber, tags darauf, hatte ich kaum meine Einrichtungen getroffen, als ich auf einmal von einem nervösen Katarrhalfieber infolge Einwirkung der Kälte befallen wurde, einer Art Typhus, der mit dem Hospitalfieber die größte Ähnlichkeit hatte. Die Krankheit machte schnelle Fortschritte und brachte mich in wenigen Tagen in die größte Gefahr. Einzig meinem Wirte und achtbarem Freund, Herrn Jacobi, der, ohne Arzt zu sein, die wirksamste Sorge für mich zeigte, verdankte ich meine Rettung. Der aufgeklärte Greis kannte aus Erfahrung die Mittel, die dieser Krankheitsform zusagten, und wußte sie bei mir zur rechten Zeit und in rechtem Maße anzuwenden. So gelangte ich geschwind zur Genesung und konnte den Tag vor Neujahr wieder das Bett verlassen.«
Andere waren nicht so glücklich: Jean-Baptiste Eblé, der Pioniergeneral, und Jean-Ambroise Lariboisière, Chef der französischen Artillerie, erlagen in Königsberg ihrer völligen Erschöpfung; sie hatten dem grassierenden Typhus nichts mehr entgegenzusetzen. Mit ihnen verlor Napoleon zwei seiner besten Generale.
Am 2. Januar 1813 konnte der wiedergenesene Larrey Königsberg beruhigt verlassen, denn er wußte die Kranken und Verwundeten gut aufgehoben; die einheimischen Ärzte und auch die Stadtverwaltung kümmerten sich um sie – »niemals hatten unsere Kranken bessere Lebensmittel, kräftigere Getränke und wertvollere Arzneien« –, außerdem hatte er sie der Führung des preußischen Kontingents im 10. Armeekorps anempfohlen; der Schutz des preußischen Militärs sollte die Kranken vor den Exzessen der Russen schützen, die sie – wie zuletzt in Wilna – bevorzugt an diesen Wehrlosen verübten.
In Königsberg genossen die Soldaten eine mehrtägige Ruhe bei guter Unterkunft und guter Verpflegung. Die Magazine hielten Mäntel, Hemden, Schuhe und Stiefel für sie bereit. Feldwebel Dornheim besorgte sich »den lange entbehrten geistigen Genuß aus einer Leihbibliothek«. Abends besuchte er mit seinen Kameraden die Oper, wo sie Mozarts Don Giovanni und Das Opferfest von Peter von Winter hörten. Und da sich einige lippische Soldaten aus den in Kowno liegengebliebenen Geldfäßchen reichlich mit Goldstücken versehen hatten, leisteten sie sich auch die teuersten Logenplätze neben den »verwunderten Generalen«. Zugehört hat wohl nur Dornheim, denn er war im Nebenberuf Flötist an der Detmolder Oper, die anderen interessierten sich mehr für den reichlich servierten »dampfenden Punsch und
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